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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 26.03.2018


Meshell Ndegeocello - Ventriloquism
Christina Mohr

2017 sang Meshell Ndegeocello auf Ibeyis Album "Ash" mit, jetzt veröffentlicht die Künstlerin ein Album mit Coverversionen – was allerdings keine Notlösung, sondern Programm ist. Mit "Ventriloquism" setzt Meshell Ndegeocello Künstlern und Künstlerinnen of Colour ein sensibles und selbstbewusstes Denkmal.




Manchmal wirken Coverversionen und –alben wie Verlegenheitslösungen, die Fans bei der Stange halten sollen, bis dem/der Künstler/in wieder etwas eigenes, Neues einfällt. Manchmal werden Coverversionen aber auch erfolgreicher als die Originale, wie es beispielsweise Kim Wilde mit "You Keep Me Hanging On" (Supremes) gelang, oder Bananarama mit "Venus", einst von Shocking Blue.

Meshell Ndegeocellos Coveralbum "Ventriloquism" (etwa: Bauchrednerei) hat einen dezidiert politischen Ansatz: Die Sängerin, Songschreiberin und begnadete Bassistin wollte in diesen schwierigen Zeiten – sie meint vor allem die Wahl von Donald Trump zum US-amerikanischen Präsidenten – Zeichen setzen, sich nicht der negativen Stimmung ausliefern. Ausgewählt hat die 1968 in Berlin als Michelle Johnson geborene Tochter eines US-Soldaten (und Saxofonisten!) und einer Krankenpflegerin elf Songs von Künstlerinnen und Künstlern of Colour aus den 1980er und 90er Jahren: Teils Superhits wie Tina Turners "Private Dancer" oder "Smooth Operator" von Sade, aber auch weniger bekannte Stücke wie "Tender Love" von Force MDs und "Sensitivity", im Original von Ralph Tresvant.

Ndegeocello singt Tresvants Originaltext, behält also die männliche Ich-Form bei: "you need a man with sensitivity / a man like me" – ein kleines, nicht unwichtiges Detail, ein Kommentar zu festgelegten Genderrollen: Ndegeocello lebt in einer lesbischen Beziehung, und wird auch das an den "rosa Winkel" angelehnte Covermotiv mit Bedacht ausgewählt haben. Die schwarz-rosa Grafik kann als stilisiertes "M" ihres Vornamens, aber eben auch als Referenz an verfolgte Homosexuelle im Dritten Reich gelesen werden.

"Ventriloquism" ist trotz der überwiegend blues-inspirierten, kontemplativen Stimmung keine Kuschelplatte: Meshell Ndegeocello hebt die Songs, die aus einer Zeit stammen, als R´n´B, Funk und Soul vom Mainstream geschluckt, modifiziert, verwässert wurden und dadurch als wenig ernstzunehmende Stilrichtungen galten, auf neue, gänzlich unerwartete Ebenen. Durch das durchweg verlangsamte Tempo geraten die Texte in den Fokus der Aufmerksamkeit: "Sometimes it snows in April", im Original von Prince, offenbart dank Ndegeocellos emotionalen und kraftvollen Vocals seinen tragischen Inhalt. Andererseits ist es erstaunlich, wie stark sich mancher Songtext ins Gedächtnis eingeschrieben hat – obwohl Meshell Ndegeocello die Arrangements völlig verändert, die Songs bis aufs Gerippe "auszieht" und auf das Wesentliche reduziert, erkennt frau manches doch sofort: TLCs "Waterfalls" zum Beispiel, und natürlich "Smooth Operator", das sich vom Saxofon-dominierten New Jazz zur sanft swingenden Ballade wandelt, oder "Private Dancer", das auch als langsamer Walzer seine bittere Wirkung entfaltet.

Ndegeocello lässt den Kompositionen mehr Zeit und Raum, als ihnen in den ursprünglichen Fassungen gewährt wurde: ausgiebige Instrumentalparts und überraschende Wendungen innerhalb desselben Stücks zeigen nicht nur Meshells musikalisches Talent, sondern belegen auch ihr Statement, dass Meshell Ndegeocello "eine Band" sei - sie selbst also keinen Wert auf Solo-Huldigungen legt.

AVIVA-Tipp: Mit "Ventriloquism" setzt Meshell Ndegeocello Künstlern und Künstlerinnen of Colour ein so sensibles wie selbstbewusstes Denkmal. Frau lernt vermeintlich "abgenudelte" Hits ganz neu kennen und bekommt überdies die Chance, sich mit weniger bekannten Songs auseinanderzusetzen. Definitiv keine Verlegenheitslösung, vielmehr Pop mit klarem Bildungsauftrag.

Zur Künstlerin: Meshell Ndegeocello wurde 1969 in Berlin geboren und heißt eigentlich Michelle Lynn Johnson. Ihren Künstlerinnennamen, ursprünglich Me´shell NdegéOcello, hat sie angenommen, weil er auf auf Swahili frei wie ein Vogel bedeutet. Die Familie siedelte bald nach Virginia/USA um. Ihr Vater, ein Hobby-Saxophonist, brachte ihr bereits früh musikalische Grundlagen bei. Als Jugendliche erlernte die Sängerin auf eigene Faust das Spielen eines E-Basses. Es folgten Auftritte in einigen Clubs in Washington D.C. Als sie mit ihrem Sohn Askia schwanger wurde, brach Ndegeocello das Jura-Studium an der Howard University ab. Als erste Frau wurde sie 1993 von Maverick Records, dem von Madonna gegründeten Label, unter Vertrag genommen.

Meshell Ndegeocello im Netz: www.meshell.com und www.facebook.com/Meshell.Ndegeocello

Meshell Ndegeocello
Ventriloquism

CD 2018
Label: NAÏVE / Believe
VÖ: 16.03.2018 auf CD, Vinyl und digital
11 Tracks

Weiterhören auf AVIVA-Berlin:

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Beitrag vom 26.03.2018

Christina Mohr