AVIVA-Berlin >
Public Affairs > Diskriminierung
AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 -
Beitrag vom 27.04.2016
"Nein heißt Nein!" wurde im Juli 2016 endlich Gesetz. Das AVIVA-Fazit nach der Prozessbeobachtung gegen Gina-Lisa Lohfink im August: Ernüchterung. Eine Chronologie.
Laura Seibert, Hai-Hsin Lu
07. Juli 2016: Victory! Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht! Ein Nein wird künftig zur Verurteilung ausreichen! "Sexuelle Belästigung" wird als Straftatbestand eingeführt! 22. August 2016: Alles nur auf dem Papier?!
Victory! Endlich kommt der Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht! #neinheisstnein
So lautete im Juli 2016 noch die Headline des AVIVA-Artikels. Das müssen wir heute leider revidieren, Grund zum Jubeln gibt es trotz des Urteils wahrlich nicht.
Das beschämende Versagen der deutschen Justiz – Ein Nein reicht nicht aus ...
Die AVIVA-Berlin-Chronologie seit April 2016:
| |
© AVIVA-Berlin, Hai-Hsin Lu Mitglieder des Bündnisses "Nein heißt Nein" demonstrieren gegen sexuelle Gewalt in jeder Form |
| |
© AVIVA-Berlin, Hai-Hsin Lu Eine der vielen Unterstützer_innen |
26. April 2016: Offener Brief von Frauen- und Menschenrechtsorganisationen. Das Bündnis "Nein heißt Nein" fordert Recht auf sexuelle SelbstbestimmungDer Gesetzesentwurf der Regierung sieht eine Reformierung der §§ 177 und 179 des Sexualstrafrechts vor. Allerdings greift er viel zu kurz. Das
Bündnis "Nein heißt Nein", bestehend aus Frauen- und Menschenrechtsorganisationen und zahlreichen UnterstützerInnen wandte sich am 26. April 2016 in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel und alle Bundestagsabgeordneten. Sie fordern einen - längst überfälligen - Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht und deswegen die grundlegende Überarbeitung des vorliegenden Regierungsentwurfs.
Keine Anerkennung des Rechts auf sexuelle SelbstbestimmungDie zentralen Argumente gegen den Gesetzentwurf der Regierung: Er schließe zwar einige Schutzlücken, doch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung werde weiterhin nicht grundsätzlich anerkannt. Damit, so die InitiatorInnen, bleibt der Entwurf der Prämisse verhaftet, dass grundsätzlich das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung durch die TrägerInnen des Rechtsguts selbst - aktiv - geschützt und verteidigt werden muss. Weiterhin geht er davon aus, dass Geschädigte sich im "Normalfall" zur Wehr setzen und Täter im "Normalfall" davon ausgehen dürfen, dass bei fehlendem Widerstand ein Einverständnis des Gegenübers mit sexuellen Handlungen vorliegt.
Die Verantwortung wird noch immer bei den Opfern sexualisierter Gewalt gesucht.So ist körperlicher Widerstand im Entwurf nur bei bestimmten Umständen für die Strafbarkeit
nicht erforderlich, beispielsweise wenn die Täter die betroffene Person überrascht und sie sich aus diesem Grund nicht zur Wehr setzt.
"Nein" ist nicht genug?Nach wie vor wird also gerade nicht jede übergriffige sexuelle Handlung unter Strafe gestellt. Der Gesetzesentwurf vollzieht nicht den vom Bündnis geforderten Paradigmenwechsel, der nicht auf das Verhalten des Opfers, sondern allein auf das Verhalten der Täter abzielt. Damit blieben weiterhin Übergriffe straffrei, bei denen die von Gewalt betroffenen Personen ihr klares "Nein" bekunden, sich die Täter jedoch darüber hinwegsetzen.
Einhaltung der Menschenrechte auch im SexualstrafrechtDer Entwurf widerspricht den Vereinbarungen des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, kurz genannt "Istanbul-Konvention", die Deutschland zwar unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert hat. Das Bündnis "Nein heißt Nein" fordert in dem offenen Brief die Abgeordneten des Bundestages auf, ein zeitgemäßes und menschenrechtskonformes Sexualstrafrecht zu schaffen.
Das Bündnis "Nein heißt Nein":Folgende Verbände sind im breit aufgestellten Bündnis vertreten: bff – Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe e.V., Deutscher Frauenrat e.V., Deutscher Juristinnenbund e.V. (djb), Frauenhauskoordinierung e.V., KOK – Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V., TERRE DES FEMMES e.V., UN Women Nationales Komitee Deutschland e.V. und ZIF – Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser e.V., und viele weitere UnterstützerInnen. An dieser Stelle veröffentlicht AVIVA-Berlin Auszüge aus ihren Stellungnahmen zur Reform des Sexualstrafrechts, deren eindeutiger Konsens lautet, dass der Gesetzesentwurf mangelhaft ist.
Das fordern die BündnispartnerInnen:Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff):"Es darf nicht länger sein, dass Betroffene von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen in der Begründungspflicht für ihr Handeln stehen. Für die Strafbarkeit muss es künftig allein auf das Verhalten des Täters ankommen.", bringt
Katja Grieger vom bff die Kritik am Gesetzentwurf auf den Punkt.
Zur Pressemitteilung des bff vom 26. April 2016 zum Download als
PDFDeutscher Frauenrat e.V.:Dr. Anja Nordmann, die Geschäftsführerin des Deutschen Frauenrats, auf dessen Initiative sich das "Bündnis Nein heißt Nein" gegründet hat, positioniert sich gegen den Gesetzesentwurf. Sie ruft zu einem gleichermaßen historischen Schritt auf, wie als 1997 erstmals die Beschränkung der Strafbarkeit auf außereheliche sexuelle Handlungen aufgehoben wurde und die Vergewaltigung in der Ehe für strafbar erklärt wurde:
"Wir fordern eine zeitgemäße und menschenrechtskonforme Weiterentwicklung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung. Deshalb lehnen wir den vorliegenden Entwurf ab. Wir rufen die Gesetzgebenden stattdessen zu einer großen Koalition für ein "Nein heißt Nein" auf. Wir wollen eine große Reform des Sexualstrafrechts, die einen Paradigmenwechsel vollzieht – wie 1997, als eine große Mehrheit von Bundestagsabgeordneten über alle Fraktionen hinweg für die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe stimmte. Das war ein historischer Schritt bei der Bekämpfung sexualisierter Gewalt. Jetzt muss der Bundestag einen weiteren gehen."Zur Pressemeldung des Deutschen Frauenrats vom 26. April zum Download als
PDFDeutscher Juristinnenbund e.V.:Ramona Pisal, djb-Präsidentin: "Nein heißt Nein - diesen gesellschaftlichen Konsens muss unser Strafrecht abbilden. Die Zeit ist reif für eine umfassende Neukonzeption des gesamten 13. Abschnittes des StGB. Mit weniger wollen wir uns nicht länger zufriedengeben." Der djb fordert seit Jahren mit ausführlichen
Stellungnahmen und Regelungsvorschlägen einen Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht hin zum lückenlosen Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, d.h. die zeitgemäße und menschenrechtskonforme Weiterentwicklung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung und somit die Beseitigung aller Schutzlücken - nicht nur einiger weniger, wie es der gegenwärtige Gesetzentwurf vorsieht.
Zur Stellungnahme des djb vom 26. April 2016 zum Download als
PDF Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V. (KOK):Naile Tanış, Geschäftsführerin des KOK begreift die anstehende Bundestagsdebatte und die geplante Gesetzesreform als Chance für eine tiefgreifende Veränderung des Sexualstrafrechts:
"Notwendig ist es, die Chance zu nutzen und eine umfassende Reformierung des Sexualstrafrechts anzugehen, die einen Paradigmenwechsel vollzieht. Mit einer halbherzigen Umsetzung ist letztlich den Betroffenen nur eingeschränkt geholfen und es wird die Gelegenheit versäumt, Deutschlands Sexualstrafrecht mit den Vorgaben aus internationalem Recht in Einklang zu bringen."Zur Stellungnahme des KOK vom 17. Februar 2016 zum Download als
PDFTERRE DES FEMMES e.V.: "Es darf nicht sein, dass eine sexuelle Handlung, bei der sich der Täter über den Willen der Betroffenen hinwegsetzt, strafffrei bleibt. Die Verantwortung dafür, ob eine Vergewaltigung auch als eine solche bestraft werden kann, darf nicht beim Opfer liegen," reklamiert
Maja Wegener, Fachbereichsleiterin der Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES.
"Wir fordern eine umfassendere Reform, einen Paradigmenwechsel, der darauf abzielt, dass jede sexuelle Handlung, die gegen den Willen einer anderen Person ausgeübt wird, bestraft wird", erklärt die Frauenrechtsaktivistin.
Zur Stellungnahme von TERRE DES FEMMES zum Download als
PDFDeutsches Komitee für UN Women e.V.:Im März 2016 startete das Deutsche Komitee für UN Women bereits die
Social-Media Kampagne #NeinheißtNein.
"Nein heißt immer noch nicht Nein. Sexuelle Handlungen, die ohne ausdrückliche Zustimmung erfolgen, wie Berührungen an der Brust oder in den Schritt, gelten auch im geplanten Gesetz nicht als strafbar. Es ist nicht hinnehmbar, dass Deutschland weiterhin ein Land bleibt, in dem nicht alle Formen von sexuellen Übergriffen strafbar sind. Ein klar formuliertes Nein muss für die Bestrafung einer Täterin/eines Täters ausreichen", so
Karin Nordmeyer, Vorsitzende des Deutschen Komitees.
Zur Pressemitteilung des Deutschen Komitees für UN Women zum Download als
PDFMehr zum Thema:UnterstützerIn werden: Die Petitionsplattform Change.org hat unter
"#Nein heißt nein. Schaffen Sie ein modernes Sexualstrafrecht" dazu aufgerufen, ihre Kampagne zu unterzeichnen.
Zum Unterschreiben der
Online-Petition auf:
www.change.orgWeitere Informationen:Offener Brief vom 26. April 2016 an die Bundeskanzlerin des Bündnis "Nein heißt Nein" zum Download als
PDF auf der Seite des djb
"Gesetzesentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung" zum Download als
PDF auf der Homepage des
Bundesministeriums der Justiz und für VerbraucherschutzDas Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, Council of Europe Treaty Series No 210 zum Download als
PDFWeiterlesen auf AVIVA-Berlin:Deutscher Juristinnenbund fordert: Frauen vor Gewalt schützen durch EU-weite Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und eine Reformierung des SexualstrafrechtsDer Gesetzesentwurf zur internationalen Rechtshilfe des Bundesjustizministeriums bezieht wesentliche europäische Regelungen nicht mit ein, kritisiert der djb. Dabei ist dieser Entwurf insbesondere für Frauen relevant, die von Gewalt-, und anderen Straftaten betroffen sind (2014)
Anne Wizorek - Weil ein Aufschrei nicht reicht. Für einen Feminismus von heuteZehntausende Frauen nutzten den von Anne Wizorek initiierten Hashtag #aufschrei als Ventil für ihre Erfahrungen mit Alltagssexismus. (2014)
Auswertung der Online-Kampagne #ichhabnichtangezeigt widerlegt Vergewaltigungsmythen (2012)
FREE THE NIPPLE"What is so obscene about the woman´s body?" Initiatorin und Regisseurin Lina Esco und feministische AktivistInnen wehren sich in den USA gegen die Kriminalisierung von weiblichen Brüsten in der Öffentlichkeit. Die Online-Petition "Schutz für stillende Mütter in der Öffentlichkeit!" macht seit dem 18. Februar 2016 auch in Deutschland auf Diskriminierung aufmerksam. (2016)
Alice Schwarzer (Hg.) - Es reicht! Gegen Sexismus im Beruf (2013)
Julia Korbik - Stand Up! Feminismus für Anfänger und Fortgeschrittene (2014)
Der verlorene Kampf um die WörterIn ihrem Plädoyer für eine angemessenere Sprachführung deckt Monika Gerstendörfer den opferfeindlichen Sprachgebrauch bei sexualisierter Gewalt in der Alltagssprache und Berichterstattung auf (2007)