Berlin - Stadt der Frauen. Eine beeindruckende Ausstellung des Stadtmuseums Berlin vom 17. März – 28. August 2016 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur Kultur live



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 18.03.2016


Berlin - Stadt der Frauen. Eine beeindruckende Ausstellung des Stadtmuseums Berlin vom 17. März – 28. August 2016
Yvonne de Andrés

In Berlin ist jede zweite eine Frau. Die 20 portraitierten Frauen warfen das Korsett gesellschaftlicher Zwänge ab und verfolgten ihre eigenen Wege zu Emanzipation und Bildung. Damit haben sie zugleich ein Stück Berliner (Emanzipations-) Geschichte geschrieben.







1866, vor 150 Jahren, im Modernisierungsumbruch Berlins hin zur Metropole, gründete Wilhelm Adolf Lette den "Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts" . Ziel waren Ausbildungsangebote speziell für Frauen. Frauen hatten lange Zeit kein Recht, weiterführende Schulen zu besuchen oder das Abitur abzulegen. Erst 1908 erfolgte in Preußen die Zulassung von Frauen an die Universitäten. Daher war ein gut qualifizierendes Bildungsangebot, was Frauen die Möglichkeit einräumte, ihr eigenes Geld zu verdienen, ein wichtiger Schritt der Emanzipation. Lange war es nicht selbstverständlich, dass Frauen einer Erwerbsarbeit nachgingen oder in der Politik tätig waren. Anna Schepeler-Lette (1829-1897), Tochter von Wilhelm Adolf Lette, ebnete den Weg dorthin. Die Politikerin, Frauenrechtlerin und Schulgründerin kann als Role Model für andere Frauen gelten. Nach dem Tod ihres Vaters 1872 benannte sie den Verein um. Er hieß nun "Lette-Verein". Die zum Leben erweckte Büste von Anna Schepeler-Lette stellt den Besucherinnen ihren Werdegang persönlich vor.



Die Ausstellung des Stadtmuseums Berlin eröffnet mit den 20 starken Berlinerinnen einen umfassenden Blick auf die Frauenbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts. Für jede war es wichtig, sich zu bilden. Mehr als ein Drittel der vorgestellten Frauen sind Jüdinnen, die einen doppelten Prozess der Emanzipation zu durchschreiten hatten, als diskriminierte Frauen und als diskriminierte Juden.



Noch heute streiten Frauen für die Lockerung und Entfernung einschnürender Korsette. Das Recht auf Arbeit, das Recht auf Selbstbestimmung und das Recht auf Gleichberechtigung sind wesentliche Aspekte der Frauenbewegung bis heute. Mit mehr als 400 Exponaten, einschließlich vieler persönlicher Erinnerungsstücke, zeichnet die sorgsam kuratierte Ausstellung die Lebenswege der 20 Frauen nach. Viele standen den Leitgedanken Lettes nahe.



Emilie Winkelmann (1875- 1951), die erste Architektin Deutschlands. 1907 nahm sie an dem großen Wettbewerb für den Theaterbau "Prachtsäle-Alt-Berlin" teil und gewann. In der Folge erhielt sie zahlreiche Aufträge und plante den Bau eines progressiven Studentenwohnheimes für Frauen, das "Victoria-Studienhaus" (heute: "Ottilie-von-Hansemann-Haus" in der Otto-Suhr-Allee).

Fritzi Massary (1882-1969), ein Revue-Star am Theaterhimmel von Berlin, bis sie vor der antisemitischen Flut 1932 aus Berlin floh. Vertrieben werden auch einige andere der hier gezeigten Frauen, wie z. B. die Fotografin Gisèle Freund (1908 – 2000), die über London und Paris nach Südamerika emigrieren musste.
Andere blieben unter sehr schweren Bedingungen. Die jüdische Bildhauerin und Grafikerin Renée Sintenis (1888-1965), die 1934 aus der Akademie der Künste ausgeschlossen wurde. Dennoch konnte sie in der Reichskulturkammer bleiben, ihre Werke wurden von den Nationalsozialisten aus öffentlichen Sammlungen entfernt. Bis zur Zwangsauflösung des Deutschen Künstlerbundes (DKB) blieb sie dessen Mitglied.



Noch andere entgingen der Deportation und der Ermordung nur knapp, wie die Lehrerin Dora Lux (1882 -1959). Die Ausstellung zeigt Bilder dieser klugen, resoluten Frau. Eines zeigt sie in den 50er Jahren in einem Klassenraum in Heidelberg an der Elisabeth-von-Thadden-Schule. Dora Lux war in Berlin in einer jüdischen Familie aufgewachsen, die zum Protestantismus übergetreten war. 1901 war sie eine der ersten 50 Abiturientinnen in Deutschland. Sie studierte in München, wo Frauen schon an der Universität zugelassen waren. 1906 promovierte sie in Altphilologie und wurde 1909 eine der ersten Gymnasiallehrerinnen Deutschlands. 1915 heiratete sie den zwanzig Jahre älteren Heinrich Lux, der zwei Töchter in die Ehe mitbrachte. Lux verband Berufstätigkeit und Familie. 1933 wurde sie aus dem Schuldienst entlassen. In dieser Zeit schrieb sie Beiträge für die Zeitschrift "Ethische Kultur", in denen sie sich für Pressefreiheit und andere Grundrechte einsetzte. 1935 meldete sich Dora Lux nicht zur Registrierung bei der polizeilichen Meldebehörde und entging so der Deportation. Einem Staat, der sie Kraft seiner Rassengesetze zur Jüdin machte, wollte sie sich nicht selbst ausliefern. Deshalb akzeptierte sie die Definition Jüdin, die ihr von den Machthabernzugeschrieben werden sollte, nicht. Ihre Schwester Annemarie konnte in die USA emigrieren, ihre Geschwister Elsbeth und Friedrich wurden nach Theresienstadt deportiert, wo Friedrich starb.Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Lux erstmals eine befristete Stelle, durch Vermittlung von Karl Jaspers, an der Heidelberger Universität. Ab 1947 unterrichtete sie an der Elisabeth-von-Thadden-Schule im Heidelberger Stadtteil Wieblingen. Beeindruckend ist die Menschlichkeit und Zivilcourage Dora Lux. Trotz eigener Gefährdung half sie anderen. Hilde Schramm, Erziehungswissenschaftlerin und Mitbegründerin der "Stiftung Zurückgeben" hat dem Leben und Wirken ihrer Lehrerin mehrere Jahre lang akribisch nachgeforscht und das Buch Hilde Schramm - Meine Lehrerin, Dr. Dora Lux. 1882-1959. Nachforschungen veröffentlicht.

Die Texte der Ausstellung und der verwendeten Audioguides sind in Deutsch und Englisch erhältlich. Sie erzählen die Geschichten hinter den in Berlin verwurzelten oder mit Berlin verwobenen Biografien und damit auch die Geschichte der Stadt. Medienstationen ermöglichen einen häufig auch sehr emotionalen Zugang zu ihnen, szenische Darstellungen lassen Lebensstationen lebendig werden.



Die vorgestellten Frauen sind Rollenmodelle, manches Mal auch Vorbilder für Frauen heute. Die Kuratorin Martina Weinland berichtete anlässlich der Pressekonferenz zur Eröffnung der Ausstellung, wie schwierig es gewesen sei, ausschließlich 20 Frauen auszuwählen, die stellvertretend für die letzten 150 Jahre Berlin-Geschichte stehen. Um eine stärkere Übersichtlichkeit zu erreichen, gruppierten die KuratorInnen die Portraits um vier Themen herum: die Politik, die Unternehmen, die Kreativität und Innovationen. Diese Aufteilung nach Themen begleitet auch jedes der Ausstellungsstück als kleines Korsett-Piktogramm. Kurze Erläuterungen verdeutlichen den Besucher_inen die wesentlichen Auseinandersetzungen um Restriktionen, die in den verschiedenen Zeitepochen für Frauen existierten.

Unter den politischen Frauen finden sich: Katharina Heinroth, Zoologin und Direktorin des Berliner Zoos, Anni Mittelstädt, Vorsitzende des Klubs der Berliner Trümmerfrauen, Cornelie Richter, Salonnière, Louise Schroeder, Politikerin und Berliner Oberbürgermeisterin und Emilie Winkelmann, Architektin.
Unter den unternehmerischen Frauen sind: Elly Beinhorn, Fliegerin und Buchautorin, Marie von Bunsen, Schriftstellerin, Hedwig Dohm, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin, Fritzi Massary, Sängerin und Schauspielerin, Anna Schepeler-Lette, Frauenrechtlerin und erste Leiterin des Lette-Vereins.
Die ausgestellten kreativen Portraits zeigen: Charlotte Berend-Corinth, Malerin, Muse und Modell, Eva Kemlein, Fotografin und Fotojournalistin, Käthe Kollwitz, Grafikerin, Malerin und Bildhauerin, und Jeanne Mammen, Malerin und Zeichnerin, Renée Sintenis, Bildhauerin und Grafikerin.
Als bedeutende innovative Lebensgeschichten sind vetreten: Gisèle Freund, Fotografin und Fotohistorikerin, Marie Kundt, Fotografin, Dora Lux, Pädagogin, Clara von Simson, Naturwissenschaftlerin, und Mary Wigman, Tänzerin und Choreografin.
Die Ausstellung macht deutlich, dass Emanzipation für Frauen mehr bedeutet als gleiche Rechte. Die frühen Vorkämpferinnen sind wichtig für unser Selbstbewusstsein. Die Ausstellung stellt die Frauen in historischer Perspektive vor und schildert, wie sie mit den ihnen gestellten Restriktionen umgingen und sie zu überwinden suchten. Spannende, erhellende Schlaglichter.



Die Gegenwart
Sich für Equal pay day einzusetzen und ungleiche Bezahlung für gleiche Arbeit nicht zu akzeptieren, dazu laden die AusstellungsmacherInnen und das Museum ebenfalls ein.
Unter dem Motto "Berufe mit Zukunft. Was ist meine Arbeit wert" findet in Kooperation mit dem Forum Equal Pay Day, initiiert vom Business and Professionell Women Germany e.V. eine Aktion vor dem EPHRAIM-PALAIS statt.

Veranstaltungsort: EPHRAIM-PALAIS | Stiftung Stadtmuseum
Posstraße 16
10178 Berlin
Ausstellungsdauer: 17. März – 28. August 2016
Öffnungszeiten: Di, Do-So, 10-18 Uhr | Mi 12-20 Uhr
Eintritt: 6,00 / 4,00 Euro / jeden 1. Mittwoch im Monat Eintritt frei / Jugendliche bis 18 Jahre Eintritt frei
Finissage ist zur Langen Nacht der Museen.
Ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm begleitet die Ausstellung.
Mehr Infos unter:
www.stadtmuseum.de



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Hilde Schramm - Meine Lehrerin, Dr. Dora Lux. 1882-1959. Nachforschungen Die Mitbegründerin der "Stiftung Zurückgeben" würdigt mit ihrer Recherche- und Erinnerungsarbeit eine außergewöhnliche Frau, die trotz ihres Wirkens in keiner Studie zur Frauenbildung oder zum Nationalsozialismus erwähnt wird. (2012)

Spuren ins Jetzt. Hedwig Dohm - Eine Biografie von Isabel Rohner Die Frauenrechtlerin, Journalistin, Autorin und Publizistin Hedwig Dohm (1831- 1919) hatte vier Geburtsurkunden, wurde an einem Dienstag geboren und war mit 17 Geschwistern in der Friedrichstraße 235 groß geworden. Zum Hedwig-Dohm-Jahr 2011 erschien im November 2010 im Ulrike-Helmer-Verlag eine sachlich-kurzweilige Biografie der Jubilarin Hedwig Dohm, geborene Schlesinger.

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Gedenktafel zu Ehren Eva Kemleins wird am 25. August 2014 eingeweiht
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Eva Kemlein. Ein Leben mit der Kamera
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Alice Salomon – ein Leben für die Bildung und die Frauen Die von Alice Salomon gegründete Hochschule für Soziale Arbeit und Pädagogik wird in diesem Jahr 100. Ein schöner Anlass, um zurückzublicken auf das Leben und Wirken dieser außergewöhnlichen Frau. (2008)

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Luise Berg-Ehlers - Unbeugsame Lehrerinnen. Frauen mit Weitblick Mit welchem bürokratischen und persönlichen Hindernissen die Frauen zu kämpfen hatten, die sich diesen Beruf zu ihrer Berufung erkoren hatten, erzählt der im Elisabeth Sandmann Verlag erschienene Band anhand von ausgewählten Beispielen mutiger Lehrerinnen unterschiedlicher Epochen.

Musik + Entertainment populärer jüdischer KünstlerInnen aus Wien, Berlin, Hamburg und München, 1903-1936 Ton-Dokumente der blühenden jüdischen Kulturszene vor der Shoah sind gesammelt auf 3 CDs erschienen, darunter von Fritzi Massary (2003)

Copyright Text: Yvonne de Andrés
Copyright Fotos: Sharon Adler



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Beitrag vom 18.03.2016

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