Ljubinka Petrovic-Ziemer - Mit Leib und Körper. Zur Korporalität in der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 22.12.2011


Ljubinka Petrovic-Ziemer - Mit Leib und Körper. Zur Korporalität in der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik
Lisa Scheibner

Die Autorin untersucht das Verhältnis von Körper und Leib in Beziehung zu den Themenkomplexen "Arbeit" und "Familie" anhand der Stücke sechs zeitgenössischer Dramatikerinnen. Sie stellt die Frage




... inwiefern Theatertexte, die von Frauen verfasst wurden, als repräsentativ für die Gegenwartsdramatik angesehen werden können.

Dramatikerinnen haben lange dafür gekämpft, überhaupt als solche anerkannt zu werden. Seit den 1990ern ist den deutschsprachigen Theaterautorinnen, so Ljubinka Petrovic-Ziemer, endlich ein Durchbruch gelungen: sie werden aufgeführt, veröffentlicht und rezipiert. Aber wird ihre Sicht der Dinge auch als allgemeingültig wahrgenommen?

Die Autorin konzentriert sich bei ihrer Analyse von Körper und Leib in zeitgenössischen Theatertexten ausnahmslos auf Stücke, die von Frauen geschrieben wurden: Elfriede Müllers "Die Bergarbeiterinnen"(1992), Katharina Tanners "Degerloch Dream" (1995) und "Springerin" (2001) von Simone Schneider ordnet sie dem Überthema "Arbeit" unter. Bei "Erben und Sterben" (1992) von Friederike Roth, "Sloane Square" (1992) von Marlene Streeruwitz und Jenny Erpenbecks "Katzen haben sieben Leben" (2000) benennt sie das Sujet mit "Familie". Beide Teile werden durch Zusammenfassungen soziologischer Beobachtungen zu "postfordistischen Arbeitsverhältnissen", beziehungsweise Familienmodellen des "(post-)patriarchalischen Zeitalters" eingeleitet.

Leib und Körper

Doch was ist eigentlich der Unterschied zwischen Leib und Körper, und inwiefern sind die Gender Studies ein unumgängliches Studienfeld, wenn frau sich mit dem "Körperleib" beschäftigt? "Der menschliche Körper" werde "für geschlechtsspezifische Zuschreibungspraxen als materielle Basis vereinnahmt", so Petrovic-Ziemer, daher sei eine entsprechende interdisziplinäre Analyse notwendig. Als "Körper" gilt die Außenwahrnehmung belebter und unbelebter Einheiten, während der "Leib" per definitionem beseelt und "durch die Sinne subjektiv erfahrbar" ist. Doch was geschieht in diesem Spannungsfeld zwischen "Körper haben" und "Leib sein", welche Handlungsmöglichkeiten hat das "Ich"? Und wie findet diese Unterscheidung Ausdruck in Texten, die dafür gedacht sind, theatral verkörpert zu werden, und sich dementsprechend mit Andeutungen der Physis und Psychologie der Figuren begnügen müssen?

Grundlagen kurz gefasst

Petrovic-Ziemer bereitet ihre Analyse sehr übersichtlich vor: im ersten Teil des Buches vermittelt sie theoretische und methodische Grundlagen. Sie beginnt mit einem Abriss über die Geschichte der Frauendramatik und der Gegenwartsdramatik im Verhältnis zu den von ihr ausgewählten Autorinnen, und stellt die Erkenntnisse in Beziehung zu Hans-Thies Lehmanns einflussreichem Konzept des Postdramatischen Theaters. Sie gibt Einblicke in die Körperforschung, in der natürlich die von René Descartes beschriebene Körper-Geist-Spaltung nicht fehlen darf, um schließlich ihr eigenes "körperleiborientiertes Analysemodell" vorzustellen, das sich auf Maurice Merleau-Ponty und Helmuth Plessner bezieht und mit dem "Staging-Body-Ansatz" nach Gabriele Brandstetter arbeitet.

Der Körper ohne Leib wird zur Marionette

Im zweiten Teil des Buches geht Petrovic-Ziemer auf die Wirkung und den Kontext der Stücke zur Zeit ihrer Erstaufführung ein. Sie entdeckt in ihrer genauen Analyse der Texte Beschreibungen von Figuren, bei denen Leib und Körper Eins sind, als auch solche, bei denen dies nicht der Fall ist, was als eine Art Zweiteilung oder Fernsteuerung der Person empfunden werden kann.

Ohrenentzündung vom Telefonieren

Sich wiederholende Themen der Stücke sind Krankheit und die Sterblichkeit und Fragilität der Körper, die "Verdinglichung des Körpers", die dieser in kapitalistischen Arbeitsverhältnissen erfährt (was zu Kontroll- und Machtverlust des Ichs führt) und die Verflechtung der körperleiblichen mit der Raum- und Zeitdimension, etwa im Bereich der Kommunikation. Eine Figur bekommt beispielsweise eine Ohrenentzündung, weil sie im Zuge ihrer "(Selbst-)Ausbeutung" quasi mit ihrem Handy verwachsen ist. Stückübergreifend sind außerdem die Veränderung sexueller Normen und die Verflechtung von Machtbeziehungen und räumlichen "Körperpositionierungen" bedeutend.

Zum Schluss betont Petrovic-Ziemer, dass die Themen und Ästhetiken der behandelten Stücke sich ganz klar im Rahmen der zeitgenössischen Dramatik befinden und somit auch als repräsentativ für diese angesehen werden können. Sie spricht sich somit gegen das Vorurteil aus, Frauenliteratur sei ein gesonderter Bereich, und nicht mit dem angeblich allgemeingültigen Schreiben von Männern vergleichbar.

Zur Autorin: Dr. phil. Ljubinka Petrovic-Ziemer studierte Englisch und Germanistik in Osijek, Kroatien und Literaturwissenschaft in Sarajevo, Bosnien-Herzegowina. "Mit Leib und Körper" ist ihre Doktorarbeit in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft an der Universität Trier, die sie 2010 abschloss.
Derzeit ist die Autorin wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Berghof Conflict Research, ihre fachlichen Schwerpunkte sind Literatur- und Kulturwissenschaften sowie die Friedens- und Konfliktforschung. Seit 1992 ist sie in der Friedensforschung im früheren Jugoslawien tätig und war 1998 Mitbegründerin der Vereinigung für Interreligiöse Friedensarbeit "Abraham" in Sarajevo, die sie zeitweise auch leitete. Petrovic-Ziemer lebt seit 2005 in Deutschland und lehrt(e) Deutsche Literatur und Kulturgeschichte in Sarajevo sowie Friedens- und Konfliktstudien in Berlin.
Weitere Infos: www.berghof-conflictresearch.org

AVIVA-Tipp: Die Autorin legt mit ihrer Doktorarbeit eine ausführliche Behandlung der Körper versus Leib-Thematik vor, die sie ausschließlich anhand dramatischer Texte von Frauen untersucht. Sehr systematisch bereitet sie die Grundlagen der Konzepte auf, auf die sie sich bezieht, um dann mit ihrem eigenen Analysemodell ins Detail zu gehen.
Ihr Schwerpunkt auf eine interdisziplinäre und gender-sensible Untersuchung bietet interessante Verflechtungen: Soziologie und Psychologie treffen auf Literatur- bzw. Theaterwissenschaft und werden mit kulturtheoretischen und leibesphilosophischen Betrachtungen in Verbindung gebracht.

Ljubinka Petrovic-Ziemer
Mit Leib und Körper. Zur Korporalität in der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik

transcript, erschienen im September 2011
Kartoniert, 428 Seiten
ISBN 978-3-8376-1886-0
39,80 Euro
www.transcript-verlag.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Ausgelesen. Interview mit Jenny Erpenbeck (2005)

Jenny Erpenbeck: "Wörterbuch" (2005) und "Heimsuchung" (2008)

Marlene Streeruwitz: "Partygirl" (2002)

Susanne Foellmer (Theaterwissenschaft, bei Prof. Gabriele Brandstetter) bekommt Preis für ihre Dissertation zu grotesken Körperformen im Tanz (2010)

Theresia Walser: "Kleine Zweifel" (2001)

Elfriede Jelinek: "Bambiland" als Hörbuch (2005)

Thea Dorn & Ulrike Haage: "Bombsong" (2001)

Interview mit Thea Dorn (2002)


Literatur

Beitrag vom 22.12.2011

AVIVA-Redaktion