Luitgard Marschall und Christine Wolfrum - Das übertherapierte Geschlecht. Ein kritischer Leitfaden für die Frauenmedizin - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 11.04.2017


Luitgard Marschall und Christine Wolfrum - Das übertherapierte Geschlecht. Ein kritischer Leitfaden für die Frauenmedizin
Lisa Baurmann

Schützt das regelmäßige Mammografie-Screening vor Brustkrebs? Helfen oder schaden Hormone bei Wechseljahresbeschwerden? Der Ratgeber informiert umfassend und sachlich über diese und weitere drängende, hochaktuelle Fragen der Frauengesundheit.




Wenn normale Befindlichkeitsstörungen plötzlich als Krankheit gelten und eine aufwendige Behandlung erfolgt, oder für relativ harmlose Krankheiten Medikamente verschrieben werden, die weit mehr Nebenwirkungen haben, als sie nutzen, ist das eine Übertherapie. Christine Wolfrum und Luitgard Marschall zufolge geschieht das bei Frauen besonders häufig. Diesen Umstand können sie anhand von sorgfältigen Recherchen belegen. Unter anderem beziehen sie sich auf die 2016 veröffentlichte Meta-Studie "Gender differences in antibiotic prescribing in the community: a systematic review and meta-analysis" der Universität Tübingen in der nachgewiesen wird, dass Patientinnen 27 Prozent mehr Antibiotika verschrieben werden als Patienten, ohne dass dieser Unterschied medizinisch erklärt werden kann. Für die Pharmaindustrie wie Ärzt_innen ist es ein lukratives Unterfangen, zuvor als gesund geltenden Frauen teure Therapien verkaufen zu können. Den Frauen entstehen dabei nicht nur monetäre Nachteile, sondern vielfach hohe gesundheitliche Risiken.

Entschiedene Kritik am Gesundheitssystem

Das Autorinnenteam besteht aus der Wissenschaftsjournalistin Wolfrum sowie der Pharmazeutin und Wissenschaftshistorikerin Marschall. Beide haben bereits eigene Bücher veröffentlicht (Wolfrum: "Hauptsache gesund - das Frauenbuch für Körper und Seele" und Marschall: "Aluminium. Metall der Moderne"). Nun entwickeln sie zusammen eine stichhaltige Kritik am deutschen Gesundheitssystem und daran, wie dessen Akteur_innen von Ängsten und Unsicherheiten der Patientinnen profitieren. Ihre umfassende Abhandlung dient gleichzeitig als Leitfaden für Frauen, die sich über Nutzen und Risiken von vielfach beworbenen Therapien und Präventionsprogrammen informieren wollen. Einige der medizinischen Maßnahmen, die sie diskutieren, sind dabei bereits öffentlich in die Kritik geraten, wie etwa das Mammografie-Screening. Andere Themen sind bisher möglicherweise nur wenigen bekannt, wie der oft unnötige invasive Eingriff der Gebärmutterentfernung bei gutartigen Gewebsveränderungen. Mit ihrem sachlichen Stil und umfassenden Recherchen gelingt es Wolfrum und Marschall bei den komplexen und oft unübersichtlichen Gesundheitsthemen, betroffenen Frauen eine Entscheidungshilfe an die Hand zu geben.

Hormone in den Wechseljahren – ein geschickter Marketingstreich

Vielleicht am deutlichsten werden die Probleme des Gesundheitssystems, die zu Lasten der Frauen gehen, im Kapitel zu den Wechseljahren. "Hormonersatztherapie" oder HET - allein die Bezeichnung kann als geniale Marketingstrategie der Medikamentenindustrie gesehen werden. Denn sie suggeriert, dass den alternden Frauen etwas "fehlt", das sie mit der Einnahme von künstlichen Hormonen nur ersetzen müssen. Dabei ist das Sinken des Hormonspiegels, das mit den Wechseljahren beginnt, ein vollkommen natürlicher Prozess. Dennoch wurde und wird eine HET sogar vorsorglich verschrieben, ohne dass Beschwerden vorliegen, und von den Patientinnen dabei teilweise bis an ihr Lebensende weiter geführt. Allerlei Symptome, wie Schlafstörungen oder Stimmungsschwankungen, werden immer noch unter Wechseljahresbeschwerden subsumiert, obwohl ein eindeutiger Zusammenhang mit dem sinkenden Hormonspiegel nur für Hitzewallungen und Schweißausbrüche nachgewiesen wurde. Pharmafirmen verdienten und verdienen also sehr gut daran, dass der natürliche Alterungsprozess von Frauen zu einer Art Mangelzustand erklärt wurde, den es zu beheben gilt.

Wenig Nutzen und hohes Risiko

Kurz nachdem die HET um die Jahrtausendwende ihr Hoch erlebte – fast jede zweite Frau zwischen 55 und 60 Jahren unterzog sich ihr – , wurden im Jahre 2002 dann erstmals ihre gravierenden Risiken durch großangelegte Studien bekannt: Es zeigte sich bei Probandinnen, die Hormone nahmen, eine erhöhte Sterblichkeit und ein vermehrtes Auftreten von Brustkrebs, Herzinfarkt, Schlaganfall, Thrombose und Lungenembolie. Die Zahl der Verschreibungen ging langsam zurück, und viele Ärzt_innen gehen nun vorsichtiger mit den Medikamenten um. Teilweise wird aber immer noch offensiv für sie geworben. Der Pharmakonzern Bayer etwa warnt auf seiner Webseite, in der Menopause "drohen ernste gesundheitliche Probleme" und mahnt, "ein gesunder Lebensstil ist nicht alles". Stattdessen wird das hauseigene Hormonpräparat angepriesen, das sogar Gewichtszunahme verhindern soll – die Risiken werden verschwiegen. Die Betroffenen tragen indessen die Langzeitfolgen.

Geschicktes Marketing steht auf der einen Seite, auf der anderen Seite viele unkritische Ärzt_innen, die aktuelle Studienergebnisse nicht kennen oder nicht richtig interpretieren. Dies in einem Gesundheitssystem, das Anreize dafür schafft, Gesunde zu behandeln. In diesem Umfeld müssen sich die Patientinnen zurechtfinden, die – aufgrund von Ignoranz oder auch Zeitmangel der Ärzt_innen – über Risiken und Nebenwirkungen nicht richtig aufgeklärt werden, offene Fragen haben, oder verunsichert sind. Das Muster, was sich anhand der Hormonersatztherapie zeigt, lässt sich auf viele andere medizinische Bereiche übertragen, die vor allem Frauen betreffen.

Den folgenden Themengebieten widmen sich die Autorinnen dabei im Detail:

  • Schwangerschaft
  • IGeL (Individuelle Gesundheitsleistungen)
  • Schönheitsmedizin
  • Hormone
  • Wechseljahre
  • Gebärmutterentfernung
  • Mammografie-Screening
  • Depression

  • Umfassendes Informieren statt schnelles Nachschlagen

    Zusammengefasste Informationen für Patientinnen sind in jedem Kapitel farblich unterlegt, sodass sie einfach von den Leserinnen gefunden werden, die schnelle Auskunft suchen. Leider sind diese Kurzdarstellungen allzu knapp und allgemein gehalten. Wichtige Zahlen und Fakten, wie Studienergebnisse zu Nebenwirkungen, werden vor allem im Fließtext genannt. Das schmälert den Nutzen als Nachschlagewerk. Die Kapitel kommen jedoch zu einem großen Teil ohne Fachjargon aus und sind daher auch für Nichtkundige gut zu lesen, die allerdings entsprechend Zeit und Muße dafür einplanen müssen.

    Die zahlreichen Studien, auf die sich die Autorinnen stützen, sind im Anhang vermerkt, sodass sich die medizinisch interessierte Leserin vertieftes Wissen aneignen kann. Für alle Anderen gibt es zum Weiterlesen dankenswerter Weise auch eine umfangreiche Linksammlung zu Webseiten, die transparent und teilweise auch frauenspezifisch zu Gesundheitsfragen informieren.

    AVIVA-Tipp: "Das übertherapierte Geschlecht" ist ein wertvoller Ratgeber mit vielen wichtigen und hochspannenden Informationen für Frauen in (fast) allen Lebenslagen, die mit Entscheidungen über die eigene Gesundheit konfrontiert sind. Das Ausmaß der Übertherapien, das die Autorinnen aufzeigen, gibt dem Buch zudem eine politische Komponente. Am besten geeignet ist es für die Leserin, die sich tiefergehend informieren möchte.

    Zu den Autorinnen: Luitgard Marschall ist Pharmazeutin, promovierte Wissenschaftshistorikerin und Autorin und hat in den Themenfeldern Medizin, Umwelt und Nachhaltigkeit ("Aluminium. Metall der Moderne") veröffentlicht. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ressourcenstrategie der Universität Augsburg.
    Mehr Infos unter: www.mrm.uni-augsburg.de

    Christine Wolfrum studierte Anglistik und Oecotrophologie. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Wissenschaftsjournalistin und Sachbuchautorin. Sie war leitende Redakteurin des Medizin-Ressorts der Prima Carina. Wolfrum hat zahlreiche Bücher im Bereich Frauengesundheit, Psychologie und Sexualität publiziert. Zwei ihrer Veröffentlichungen ("So wild nach deinem Erdbeermund" und "Ich und ein Baby?") wurden für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
    Mehr Infos unter: www.journalistenbuero-muenchen.de


    Luitgard Marschall, Christine Wolfrum
    Das übertherapierte Geschlecht. Ein kritischer Leitfaden für die Frauenmedizin
    KNAUS VERLAG, erschienen: März 2017
    Klappenbroschur, 288 Seiten
    ISBN: 978-3-8135-0758-4
    www.randomhouse.de


    Information und Beratung zu Frauengesundheit in Berlin:

    www.ffgz.de – Feministisches Frauengesundheitszentrum e.V.

    Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

    Eula Biss – Immun. Über das Impfen – von Zweifel, Angst und Verantwortung
    Nicht nur in Deutschland gibt es eine "Impfdebatte". Vor allem junge Eltern fragen sich, ob sie ihre Kinder "durchimpfen" lassen sollten. Die amerikanische Autorin, eine Impf-Befürworterin, will anhand der eigenen Geschichte mit ihrem neugeborenen Sohn überzeugen. (2016)

    Laura Méritt – Frauenkörper neu gesehen
    Ist ein Diaphragma sicher? Wie behandle ich einen Hefepilz? Wer beim Thema Frauengesundheit eine Alternative zu zweifelhaften Onlineforen sucht, ist bei diesem Kultbuch (Orlanda) gut aufgehoben. (2012)

    Sammelklagen wegen lebensbedrohender Pille, Selbsthilfegruppe erkrankter Frauen gegründet – Bayer in Bedrängnis
    Seit der Markteinführung im Jahr 2000 starben 190 Frauen, die mit den Bayer-Contraceptiva Yasemin®, Yasminelle® oder Yaz® verhütet haben. Überprüfen auch Sie, ob Ihre Pille zu den riskanten drospirenonhaltigen Präparaten gehört. Alle Infos hier. (2012)

    Zwei neue Ratgeber zum Thema Wechseljahre
    Seit seiner Gründung 1974 erscheinen im Orlanda-Verlag vor allem politische Frauenbücher und Bücher zum Thema Frauengesundheit. Zwei interessante Werke beschäftigen sich mit einem für viele unangenehmen Thema, mit den Wechseljahren. (2011)

    Gesundheit hat ein Geschlecht
    Unbekannte Patientin – Die Medizin entdeckt den weiblichen Körper. In der noch jungen Disziplin der Gender-Medizin wird der "kleine Unterschied" untersucht, der sich medizinisch jedoch groß auswirkt. (2006)


    Literatur

    Beitrag vom 11.04.2017

    AVIVA-Redaktion