Juliane Streich - These Girls. Ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte. Mit Illustrationen von Judit Vetter - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 23.06.2020


Juliane Streich - These Girls. Ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte. Mit Illustrationen von Judit Vetter
Silvy Pommerenke

Die "Lo-Fi-Bohemienne" Juliane Streich hat als Herausgeberin fast 140 Portraits von Musikerinnen zusammengetragen, die in den letzten Jahrzehnten Musikgeschichte geschrieben haben. Das ist mehr als nur ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte, denn es bietet sich als Vorlage für die Leser*in an, um die eigene (musikalische) Biographie vor dem inneren Auge abzuspulen.




Angefangen von Edith Piaf bis hin zu Lana del Rey wirft das Buch einen Blick auf nahezu acht Jahrzehnte der populären Musik. Das ist nicht nur spannend in Bezug auf die Sounds, sondern vor allem auch in Bezug auf die gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten. Die (Musik-)Welt hat sich radikal verändert. Elektronische Musik hat Einzug gehalten, physische Musikträger wurden Anfang der 1980er durch digitale ersetzt in Form der Compact Disc, später kamen dann die MP3-Player dazu, und nicht zuletzt haben Streaming-Dienste wie YouTube oder Spotify das Hörverhalten von Grund auf neu gestaltet. Zudem kann Musik mittlerweile im Home-Studio produziert und aufgenommen werden und durch die Digitalisierung alles viel schnelllebiger geworden. Aber einiges ist auch gleich geblieben, allem voran die männliche Dominanz im Musikbusiness. Natürlich ist die Anthologie unvollständig, wie Julia Streich im Vorwort selbst eingesteht, aber es gibt auch zu viele wegweisende Künstlerinnen weltweit, als dass sie sämtlich aufgeführt werden könnten. Eine Intention des Buches ist, weibliche musikalische Vorbilder aufzuzeigen, damit Mädchen und junge Frauen bestärkt werden, zum Instrument oder Mikrofon zu greifen und ihre eigene Band zu gründen oder als Solistin den Weg auf die Bühne zu wagen.

Die Portraits der Künstlerinnen - weltberühmt bis zu Unrecht unbekannt - sind kurz und prägnant gehalten und passen zumeist auf drei Seiten. Das ist völlig ausreichend, um einen ersten (oder vertieften) Eindruck der Musikerinnen zu erhalten, um dann auf eigene Faust weiter zu recherchieren. Viele der Autor*innen schreiben förmlich eine Ode an ihre musikalischen Idole und machen Lust darauf, diese Songs anzuhören und sich weiter mit ihnen zu beschäftigen. Einige Texte stechen hervor, beispielswese der über Annette Humpe, geschrieben von Sandra und Kerstin Grether, die von ihrem persönlichen Besuch am Küchentisch der Ex-Ideal Frontfrau erzählen. Auch der postum erschienene Text über Janis Joplin von Tine Plesch ist lesenswert oder der von Martha Röckel – mit 16 Jahren die jüngste Autorin in dieser Anthologie - über Sookee.

Dabei tauchen wundervolle musikalische Überraschungen auf, wie beispielsweise die Transgender Jackie Shane, die mit verruchter Stimme den Soul der sechziger Jahre präsentiert, oder Cristina Martinez, die mit ihrer Band Boss Hog stark an die frühe Patti Smith erinnert. Auch Nicolette, eine Frau aus dem Trip-Hop-Bereich, die als "Billie Holiday on acid" bezeichnet wurde, ist des Hörens wert, ebenso wie Austra aka Katie Stelmanis. Mit glockenheller Stimme und Synthi-Klängen spricht sie explizit ein queeres Publikum an und bietet eine Alternative zu Tegan und Sara oder Beth Ditto.

Im Sammelband werden sämtliche Musikrichtungen berücksichtigt. Ob Chanson, Jazz, Soul, Rock, Pop oder Punk, Folk, Avantgarde oder elektronische Musik - um nur einige zu nennen -, in jedem Genre finden sich unzählige Frauen, die dank der zahlreichen Autor*innen (u.a. Christina Mohr, die unter anderem auch für AVIVA-Berlin schreibt oder Francoise Cactus von Stereo Total) den Weg in "These Girls" gefunden haben. Gerade diese Vielfältigkeit macht das Buch so lesenswert und öffnet den Blickwinkel für die Diversität von Musikerinnen. Erfreulich ist auch, dass viele Women of Colour und lesbische Frauen bzw. Transgender Berücksichtigung gefunden haben. Neben einem kurzen biographischen Abriss werden auch die musikalischen, politischen oder feministischen Besonderheiten der Musikerinnen hervorgehoben. Das ergibt in Gänze einen multiplen Eindruck des Musikbusiness.

Ein Warnhinweis sei jedoch vorweggenommen: es ist kaum möglich, dieses Buch am Stück zu lesen, da quasi automatisch parallel dazu die Songs angehört werden (müssen). Dank YouTube gibt es zu jeder Musikerin Songs frei Haus und auf Spotify gibt es eine Songliste zum Buch. Das kostet zwar Zeit - aber als Musiknerd gibt es kaum etwas Schöneres, als sich durch Lieder von einer Buchlektüre abhalten zu lassen.

AVIVA-Tipp: In "These Girls" werden auf mehr als dreihundert Seiten knapp 140 Musikerinnen portraitiert und es wird die feministische Musikgeschichte der letzten achtzig Jahre nachgezeichnet. Durch die Vielzahl der Autor*innen wird nahezu jedes Musikgenre beleuchtet und gibt ein großformatiges Bild ab vom Musikbusiness und dessen Protagonistinnen. Nach der Lektüre steigt die Lust auf mehr - mehr Musik von Frauen!

Zur Herausgeberin: Juliane Streich , geboren 1983 in Berlin (Friedrichshain), bezeichnet sich selbst als Lo-Fi-Bohemienne. Sie studierte Kulturwissenschaften in Frankfurt (Oder) und verfasste ihre Abschlussarbeit über Punks in der DDR. Später folgte ein Studium der Journalistik und sie arbeitet seitdem als freie Autorin und Redakteurin. Sie schreibt unter anderem für die Süddeutsche, die taz, den Freitag, die Leipziger Volkszeitung, die Deutsche Welle, die Frankfurter Rundschau, die Freie Presse oder Online-Magazine wie motor.de oder nachtkritik. "These girls" ist ihre zweite Buchpublikation, zuvor hat sie gemeinsam mit Markus Nierth "Brandgefährlich: Wie das Schweigen der Mitte die Rechten stark macht - Erfahrungen eines zurückgetretenen Ortsbürgermeisters" geschrieben. Sie lebt und arbeitet in Leipzig.
Juliane Streich im Netz: www.julianestreich.de

Zur Illustratorin: Judit Vetter ist auf Umwegen zum Illustrations-Studium an der HAW Hamburg gekommen, nachdem 2003 eine Berufslehre als Schriftgestalter*in/Werbetechnik zu Ende ging und zwischenzeitlich teils selbständig - teils angestellt – teils unbezahlt gewerkt und unzählige Pakete auf dem Fahrrad von A nach B gebracht wurden.
Mehr Infos: www.illustrationen.jetzt
(Verlagsinfos)

Juliane Streich
These Girls. Ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte

Ventil Verlag, Erscheinungstermin 12/2019
Taschenbuch, 344 Seiten
Mit Illustrationen von Judit Vetter
ISBN 978-3-95575-118-0
Euro 20,00
Mehr zum Buch unter: www.ventil-verlag.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Stereo Total - Ah! Quel Cinéma!
Wie machen die das bloß? Seit gut 25 Jahren gibt es Stereo Total nun schon, aber Francoise Cactus und Brezel Göring klingen immer noch so abenteuerlustig und abwechslungsreich wie einst im Mai – auch ihr neues, 12. Album "Ah! Quel Cinéma!" ist keine Ausnahme von dieser Regel. (2019)

Barbara Lüdde und Judit Vetter - Our Piece of Punk. Ein queer_feministischer Blick auf den Kuchen
Vor mehr als 25 Jahren erschien "Riot Grrrl Revisited", das Manifest der feministischen Bewegung, die aus Punk entstanden war und die männliche Dominanz in der Szene aufbrechen wollte – was ist heutzutage und hierzulande aus den Riot Girls geworden? (2018)

Sookee im Interview zu ihrem neuen Album Mortem & Makeup Sookee im Interview zu ihrem neuen Album Mortem & Makeup
Ich bin nicht nur eine Meinung, ich bin auch eine Musik" sagt Sookee über sich. Nach ihrem letzten Album "Bitches Butches Dykes & Divas" und drei Jahren Pause meldet sich die Quing des queeren HipHop mit "Mortem & Makeup" zurück. Mit Geschichten zwischen Queerfeminismus und Kindheit, Psychiatrie und Politik ist die Rapperin thematisch und musikalisch breit aufgestellt. (2017)

Fiona Sara Schmidt, Torsten Nagel und Jonas Engelmann (Hg.) – Play Gender. Linke Praxis - Feminismus – Kulturarbeit
Wo finden feministische Kämpfe statt? In dieser Anthologie werden die Schnittstellen gegenwärtiger Debatten, feministischer Kulturarbeit und linker Praxis mit vielfältigen Beiträgen ergründet. Dabei beleuchten die Herausgeber_innen und Autor_innen auch die Kämpfe und aktivistischen Ansätze der letzten 30 Jahre. Ein großartiger Abriss feministischer Themen! (2016)

Interview mit Kerstin Grether - An einem Tag für rote Schuhe
Sie hat nicht nur den Pop-Feminismus für Deutschland erfunden, sondern ihn auch gleich noch in ihrem Debüt "Zuckerbabys" sowie in der Musikgeschichten-Sammlung "Zungenkuss" (Suhrkamp 2007) veredelt. (2014)

Tine Plesch - Rebel Girl. Popkultur und Feminismus
"Rebel girl - when she talks, I hear the revolution", singt die Riot-Grrrl-Band Bikini Kill Anfang der 90er Jahre. Auch heute gilt diese Liedzeile der viel zu früh verstorbenen Journalistin und Poptheoretikerin Tine Plesch und ihrer gerade erschienen Textsammlung zu Popkultur und Feminismus. (2013)

Riot Grrrl Revisited. Geschichte und Gegenwart einer feministischen Bewegung Herausgegeben von Katja Peglow und Jonas Engelmann. Erweiterte Neuauflage mit Pussy Riot und Slutwalks
Rebellion und laute Gitarren für `angry young men´, eine Bandbreite von Essstörungen für `angry young women´? Ach was: "Revolution Girl Style Now!" lautete Anfang der 1990er Jahre der Schlachtruf einer feministischen Musikbewegung, die von Bands wie Bikini Kill, Bratmobile oder Heavens to Betsy ins Leben gerufen wurde. (2012)

Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld - Lexikon Musik und Gender
Ein Wahnsinnsunterfangen ist das: Die beiden Herausgeberinnen wollen nicht weniger leisten, als "sowohl die Historie des Geschlechterdiskurses als auch der Musikgeschichte und Musikwissenschaft unter dem Aspekt "Gender" lexikalisch zusammenzufassen. (2010)

Hot Topic – Popfeminismus Heute
Mit 27 Beiträgen zu Themenbereichen wie Sexualität, Aktivismus, Medien und Alltag, bietet Herausgeberin Sonja Eismann eine umfassende Analyse vom gelebten Feminismus junger Frauen. Großartig! (2007)


Literatur

Beitrag vom 23.06.2020

Silvy Pommerenke