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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 19.12.2021


Helga Schubert - Judasfrauen. Zehn Fallgeschichten weiblicher Denunziation im Dritten Reich
Bärbel Gerdes

Sie hat jahrelang in Archiven recherchiert, Gerichtsakten gelesen und ist ihren Geschichten gefolgt: in ihrem literarisch-dokumentarischen Buch beleuchtet Helga Schubert zehn Frauen, die im "Dritten Reich" als Verräterinnen und Denunziantinnen handelten. Dabei ist dieses Werk gleichzeitig ein Vexierbild des Staates, in dem sie es schrieb: der DDR.




Vierzig Jahre sind eine lange Zeit, um endlich an einem Literaturwettbewerb teilnehmen zu können. Bereits 1980 war Helga Schubert, Autorin von Erzählungen, Kinderbüchern, Theaterstücken und Hörspielen, nach Klagenfurt zum Ingeborg-Bachmann-Preis eingeladen worden. Doch die in der DDR lebende Schriftstellerin erhielt keine Ausreisegenehmigung.

2020 wurde die Einladung wiederholt. Die Achtzigjährige las aus ihrem Text Vom Aufstehen und gewann. Ein Jahr später erschien das Buch gleichen Titels mit dem Zusatz Ein Leben in Geschichten. Als literarische Wiederentdeckung des Jahres wurden sie und ihr autobiographischer Bericht gefeiert.

Die studierte Psychologin, die von den 1960ern bis 1987 als Therapeutin tätig war, stellte in ihren Büchern immer wieder Frauen in den Vordergrund, etwa in Anna kann Deutsch (1984), in dem sie Geschichten von Frauen aus dem Osten sammelte. Neben den individuellen Leben, die ihr begegneten, interessierte sich Schubert aber immer auch für den politisch-sozialen Hintergrund.
Denn immer hat sich Helga Schubert politisch engagiert und musste dafür einen hohen Preis zahlen. Allein, weil sie mit Stefan Heym und Ulrich Plentzdorf an einer Berlin-Anthologie arbeitete, wurde sie mehr als zehn Jahre lang von der Staatssicherheit beobachtet.

Mehr als vier Jahre lang recherchierte sie für den Band Judasfrauen, der 1990 im westdeutschen Luchterhand-Verlag erschien, kurz darauf jedoch auch im Aufbau-Verlag.

Zwischen 1984 und 1988 hatte sie aus Teilen dieses Buches bereits vor Studierendengemeinden der Evangelischen Kirche gelesen, zu Zeiten also, als es die Mauer noch [gab], … die Zensur, das System der Druckgenehmigung. In ihrem Vorwort zur Neuauflage macht sie deutlich, dass sie ja schlecht über Spitzel und Verräter aus der DDR-Zeit schreiben konnte.

Durch den am Anfang des Buches schlichten, neutral gehaltenen Bericht über ihre Recherchearbeit jedoch, hält sie der Willkür des DDR-Systems den Spiegel vor. Penibel erzählt sie vom Versuch, Einblick in die Akten des Volksgerichtshofes zu erhalten, die in einem Archiv in Berlin-Mitte lagerten. Polizei steht davor – allein ins Gebäude zu gelangen, ist ein Kampf.
Schubert muss über ihre Motivation zur Akteneinsicht Auskunft geben und begründet sie damit, dass "mich die Versuchung zum Verrat interessiere, in einer Gesellschaftsordnung, in der es möglich sei, private Konflikte sozusagen mittels Staatsgewalt zu lösen."
Jedoch wird ihr nur gestattet, zugeteilte Akten einzusehen. Auch dürfe sie daraus nur mit Einwilligung des Archives veröffentlichen.

Herausfinden möchte Schubert, warum Frauen im "Dritten Reich" denunzierten, obwohl sie es nicht hätten tun müssen. Kein Gericht, keine Zeitung hätte davon erfahren, schreibt sie. Außerdem störe sie die Frauenveredelung, die Frauen immer nur als gut und mütterlich darstelle.
Sie möchte am Schicksal von Verräterinnen die Unmenschlichkeit der totalitären Gesellschaft herausstellen.
Unendliche Hindernisse wurden ihr bei der Recherche in den Weg gelegt. Durch eine zeitweise erstellte Ausreisegenehmigung nach West-Berlin war es der Autorin jedoch möglich, in der dortigen Staatsbibliothek zu recherchieren, was zur Folge hatte, dass sie über das Schicksal der Denunziantinnen in dem Teil des ehemaligen Deutschland, in dem ich nicht lebte, viel mehr [weiß] als über ihr Schicksal in dem Teil, in dem ich lebte.

Zehn Frauen stellt Helga Schubert uns vor. Dabei variiert sie stilistisch, wechselt vom Monolog zum Bericht, vom Zitieren der Gerichtsakten zu Aussageprotokollen. Ein einheitliches Bild ergibt sich nicht. Da ist die Frau, die mit einer Kleinbahn fährt – parteilos, politisch nicht organisiert – und dabei hört, wie sich ein Rentner abfällig über die NS-Regierung äußert.
Obgleich sie weiß, dass die Frau eines früheren Gärtners Blockfrau der NS-Frauenschaft ist, erzählt sie ihr davon. Die Blockfrau bringt den Fall zur Anzeige. Niemand konnte im Nachhinein darlegen, was der Rentner konkret gesagt hatte, aber er wurde zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach dem Krieg vor Gericht gestellt, verteidigte sich die Blockfrau damit, sie habe damals eine strenge Anweisung erhalten, jede politische Kritik zu melden.

Als nach dem missglückten Hitlerattentat am 12. Juli 1944 nach Carl Goerdeler steckbrieflich gefahndet wurde, wurden eine Million Reichsmark und ein Händedruck Adolf Hitlers ausgelobt. Goerdeler war bis 1937 Leipzigs Oberbürgermeister gewesen. In diesem Jahr trat er zurück, weil vor dem Rathaus die Büste des jüdischen Komponisten Felix Mendelsohn-Bartholdy entfernt wurde.
Helene, eine 42jährige Schreibkraft einer Lohnstelle der Luftwaffe, die in einer Gastwirtschaft untergebracht war – auch sie nicht Mitglied der NSDAP - war ihren KollegInnen gegenüber überzeugt davon, Goerdeler jederzeit erkennen zu können.

Als Helene am 12. August 1944 in den Gastraum der Wirtschaft trat, meinte sie, in einem Mann in einer Ecke des Raumes Goerdeler zu erkennen. Sie informierte ihre KollegInnen, die alle zwar eine Ähnlichkeit erkannten, aber bestritten, dass er es sein könnte. Als der Mann das Gasthaus verließ, folgten sie ihm, ließen sich seine Papiere zeigen – er war es. Sie brachten ihn zum Bürgermeister. Helenes Vorgesetzter und sein Kollege fertigten noch am selben Tag ein Protokoll an, das sie von Helene unterschreiben ließen. Bei der anschließenden Vernehmung erwirkte Helene eine Änderung des Protokolls: die beiden Männer hatten sich selbst das Hauptverdienst der Ergreifung zugeschrieben.
Helene erhielt die Belohnung: eine Million Reichsmark und Ende August 1944 im Führerhauptquartier den Händedruck Hitlers. Bereits zwei Jahre später wurde sie vor Gericht gestellt und erhielt fünfzehn Jahre Zuchthaus, die nach ihrer Berufung auf sechs Jahre reduziert wurden. Die medizinischen Gutachten kamen zu dem Schluss, es handele sich bei ihr um eine gering begabte Frau, die die Tat nicht aus Bosheit oder Geldgier begangen habe, sondern allein aus Geltungsbedürfnis und Rechthaberei.
Carl Goerdeler wurde im Februar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Andere Frauen denunzierten, weil sie von einem Mann verschmäht wurden, weil sie eifersüchtig waren, sich rächen wollten oder einfach, weil sie es konnten.

Einher mit den Denunziationen gingen harte Zuchthaus- und Todesstrafen der Beschuldigten, die fließbandartig unterschrieben wurden. Ein Scharfrichter reichte für zehn gemachte Überstunden eine Rechnung ein, für die er 12,40 Reichsmark erhielt.

Vielseitig porträtiert Helga Schubert die Täterinnen und ihre Taten, schlüpft in die Rolle der Denunziantin und wechselt zur Außenstehenden. Fassungslos machen die Banalität und Selbstverständlichkeit, mit der die Frauen MitbürgerInnen verrieten und der Justiz auslieferten. Keine bereute ihre Tat. Vielmehr wurde sie mit der eigenen Bedeutungslosigkeit erklärt (nur ein Sand im Getriebe), mit dem Nichtabschätzen können, was nach der Denunziation geschehen würde, mit den Zeiten, die ebenso waren.

Was Helga Schubert jedoch nicht gelingt, ist darzulegen, wie geschlechtsspezifisch diese Denunziationen tatsächlich waren. Verrieten Männer nicht aus den oben genannten Gründen? Was zeichnet die Gruppe der Frauen als Geschlecht aus, das sich von dem der Männer heraushebt? Diese Antwort wird nicht wirklich schlüssig beantwortet.

AVIVA-Tipp: Judasfrauen ist ein sehr lesenswertes Buch und auch ein sehr aktuelles. Im Vorwort zur Neuauflage formuliert die Autorin genau das: Wenn ihr die offene Gesellschaft, in der wir alle mehr davor geschützt sind als in der Diktatur, zu Tätern zu werden, weil die Gerichte angerufen werden können und die Presse darüber berichtet, wenn ihr diese offene Gesellschaft verächtlich macht, dann sage ich:
Nicht in meinem Namen


Zur Autorin: Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, studierte an der Humboldt-Universität Psychologie. und arbeitete als Psychotherapeutin. Seit den 1960er Jahren arbeitete sie als freie Schriftstellerin in der DDR, schrieb Kinderbücher, Theaterstücke, Hörspiele und weitere Prosatexte. Vom Dezember 1989 bis März 1990 bereitete als Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches die ersten freien Wahlen mit vor. Zentralen Runden Tisches in Ost-Berlin. Sie gehörte dem Schriftstellerverband der DDR und dem PEN-Zentrum der DDR an (heute PEN-Zentrum der Bundesrepublik Deutschland). Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte Vom Aufstehen den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.2021 erschien bei dtv der Band Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war. Außerdem bei dtv von ihr erschienen: Die Welt da drinnen. Eine deutsche Nervenklinik und der Wahn vom "unwerten Leben" (2021). Helga Schubert lebt in Neu Meteln bei Schwerin.

Helga Schubert
Judasfrauen. Zehn Fallgeschichten weiblicher Denunziation im Dritten Reich

DTV-Verlag, erschienen am 20. August 2021
176 Seiten
ISBN 978-3-423-14821-4
Euro 11,00
Zum Buch: www.dtv.de

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