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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 21.02.2011


Reportage zum Welttag gegen den Einsatz von KindersoldatInnen
AVIVA-Redaktion

Seit 2002 wird am 12. Februar jährlich der Internationale Tag gegen den Einsatz von KindersoldatInnen begangen. Die Frauenrechtsorganisation medica mondiale unterstützt dabei insbesondere ...




... traumatisierte Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten.

Trotz weltweiter Ächtung werden bis heute nach Schätzungen von UNICEF in den Kriegs- und Krisengebieten weltweit über 250.000 Kinder und Jugendliche als SoldatInnen missbraucht. Allein in Uganda wurden von 1986 bis 2006 zwischen 20.000 und 30.000 Kinder von Rebellen der Lord´s Resistance Army entführt und zum Kampf gezwungen. Ihr Schicksal ist kaum dokumentiert.

Im November 2010 reiste Stefanie Keienburg, Mitarbeiterin von medica mondiale im Rahmen einer Projektreise nach Uganda. Dort traf sie ehemalige Kindersoldatinnen zum Gespräch. Alice, eines der entführten und zu den Rebellen verschleppten Mädchen, hat ihr ihre Geschichte erzählt. Die Eindrücke ihrer Begegnung hat Stefanie Keienburg zu einer Reportage verarbeitet, die Sie nachfolgend auf AVIVA-Berlin lesen können:

Sie kamen am helllichten Tag
Von einer Kindheit als Soldatin
Eine Reportage von Stefanie Keienburg

Alice (Name geändert) ist 12 Jahre alt, als sie von den Rebellen entführt wird. Das geschieht 1995, beim Überfall auf die Gemeinde Ayu Alali nahe der sudanischen Grenze. Neun ganze Jahre verbringt sie in den Lagern der ugandischen Rebellengruppe Lord´s Resistance Army im Südsudan als Sklavin und Kämpferin. Erst 2004 gelingt ihr die Flucht.

Drinnen ist es plötzlich dunkel, verschwunden die gleißende Mittagssonne, ein dichtes Strohdach schützt vor der Hitze. Alice fegt schnell noch den Boden der kleinen runden Hütte aus Bambus, die so typisch ist für den Norden Ugandas. Im Innern ist es angenehm kühl, aber auch eng und ein wenig bedrückend. Neun Quadratmeter hat die junge Uganderin für sich und ihre zwei Kinder. Auf dem Lehmboden hockend zeigt sie auf ihre wenigen Habseligkeiten: eine löchrige, mit Schimmel überzogene Schaumstoff-Matratze, eine kleine gepflegte Kochstelle sowie zwei große Plastik-Behälter, die an den Wänden der kleinen Rundhütte befestigt sind. Darin braut sie "Waragi", einen lokalen Alkohol aus Maniok. Mit dem Erlös, nur wenige Cents pro Liter, kaufe sie Seife und Salz, erzählt sie nicht ohne Stolz.

Alice ist arm, sie war es immer, aber früher hatte ihre Familie Land, das sie alle ernährte. Maniok, Bohnen, Hirse – manchmal blieb etwas für den Verkauf auf den Märkten. Das war, bevor Rebellen der Lord´s Resistance Army (LRA) Mitte der 80er Jahre den Norden Ugandas in ein Kriegsgebiet verwandelten. Sie überfielen Dörfer, töteten Männer, vergewaltigten Frauen und zwangen Kinder, sich den Kämpfern anzuschließen. "Sie kamen am helllichten Tag", erinnert sich die heute 27-Jährige. "Mit bedrohlichen Gesängen, wie sie es immer taten. Sie holten uns aus unseren Häusern und befahlen uns, in einer Reihe zu stehen. Dann schossen sie", erzählt Alice, die zusehen muss, wie anschließend Häuser geplündert und in Brand gesetzt werden. Bei dem Massaker verliert sie ihren Vater und ihre zwei älteren Brüder. Ihre Mutter kommt fünf Jahre später bei einem weiteren Angriff ums Leben, doch da ist sie schon längst bei den Rebellen, entführt an jenem Schreckenstag im Mai 1995, gemeinsam mit Dutzenden anderer Kinder ihres Dorfes.

Mehr als 20 Jahre lang terrorisierte die Rebellenarmee die Bevölkerung Nordugandas. 1,5 Millionen Menschen flohen vor den Kämpfen. Schätzungen zufolge entführte die LRA an die 25.000 Kinder in Uganda. Die KindersoldatInnen mussten töten, wurden von ihren Anführern gequält, die Mädchen vor allem sexuell misshandelt – wer zu fliehen versuchte, wurde fast immer mit dem Tod bestraft.

Neun Jahre verbrachte Alice in Gefangenschaft, geprägt von ständiger Angst und Bedrohung, Folter und den Nöten eines Lebens im Busch. "Wir waren immerzu auf der Flucht, meist schliefen wir auf dem harten Boden." Alice erzählt nur das Wesentliche, die Erinnerungen wühlen sie auf, eigentlich hat sie sie längst tief in sich vergraben. "Kurz nach meiner Ankunft wurde ich einem Mann übergeben, der viel älter war als ich. Von da an musste ich alles für ihn tun: Kochen, Waschen, seine Frau sein. Ich bekam ein Kind von ihm, aber es starb früh, mit fünf Jahren." Ob sie auch an bewaffneten Überfällen beteiligt war? "Ja, zweimal", sagt sie mit leiser Stimme, "ganz in der Nähe meines Dorfes". Mehr will sie darüber nicht sagen.

"Ich wollte mehrmals fliehen." Alices Blick senkt sich nach unten, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Beim dritten Mal schaffte sie es, entkam ihren Verfolgern nur knapp. Dabei fiel sie hart auf einen Stein. Seither hat sie Schmerzen in der Brust.

Doch wer sich aus den Fängen der LRA befreit, hat es schwer, einfach zu Familie und Dorf zurückzukehren. Die meisten KindersoldatInnen sind stark traumatisiert, leiden unter Depressionen und werden von Suizidgedanken und Schuldgefühlen geplagt. Viele Familien wollen die Kinder nicht wieder aufnehmen aus Angst vor Vergeltungsanschlägen der Rebellen. Auch die Furcht vor den früheren KindersoldatInnen selbst ist groß: Sie seien unberechenbar, gewalttätig, brächten Unglück, heißt es. Besonders die Töchter seien eine Last, könnten nicht mehr verheiratet werden, da sie, vergewaltigt von den Rebellen und somit entehrt, als Prostituierte gälten.

2006 begegnet Alice in einem der größten Flüchtlingslager Nordugandas der jungen Sozialarbeitarbeiterin Grace Arach, die mit der ugandischen Nichtregierungsorganisation FOWAC (Foundation of Women affected by Conflict) junge Frauen und Mädchen wie Alice mit psychosozialen Gesprächsgruppen und Landwirtschaftstrainings unterstützt. In dem Projekt von FOWAC findet sie erstmals Halt, in der Gruppe mit rund 40 anderen ehemaligen Kindersoldatinnen ist sie unter ihresgleichen, kann sich über das Erlebte austauschen und fühlt sich nicht mehr so allein. Sie baut auf einer nahe gelegenen Parzelle Gemüse und Getreide an und schöpft nach langer Zeit Hoffnung für die Zukunft. "Ich war so glücklich, Grace war ein Segen für mich."

Im selben Jahr wird es im Norden Ugandas endlich wieder ruhiger. Regierungsarmee und LRA stellen die Kämpfe ein. Zwar bleibt ein Friedensvertrag in weiter Ferne, dafür wird der Rückzug der Rebellen ausgehandelt. Nach und nach kehren die Menschen in ihre Dörfer zurück und die größeren Flüchtlingslager werden aufgelöst. Doch nicht alle Kriegsvertriebenen schaffen es, ihr Leben wiederaufzubauen, die Not ist groß.

Alice kommt wie hunderte andere mittellose Vertriebene in einem kleineren Notlager unter, die Umstände dort sind erbärmlich. Es gibt kaum fließendes Wasser und keine Toiletten, keine Arbeit, um Geld zu verdienen. Seit die großen internationalen Hilfsorganisationen abgezogen sind, verirrt sich kaum noch jemand in die weit abgelegenen Ansiedlungen. Einmal hat Alice von einer Organisation ein Moskitonetz sowie Tabletten zur Desinfektion von Trinkwasser erhalten, erinnert sie sich. Weitere Hilfe ist bislang nicht in Sicht. Ihr größter Wunsch ist es, auf das Land ihrer Eltern zurückzukehren, ein Haus zu bauen, wieder die Felder zu bestellen, um für sich und ihre Kinder zu sorgen. Trotz aller Zuversicht – in ihrem Blick spiegelt sich die Sorge, sie könne es wohlmöglich nie schaffen.

Die Nachkriegsgesellschaft Ugandas stünde noch vor gewaltigen Aufgaben, erklärt Arach, die Leiterin von FOWAC: "Das Problem von familiärer Gewalt und Ausbeutung von Mädchen und jungen Frauen hat seit Ende des Konfliktes ein nicht gekanntes Ausmaß angenommen. Überall sehen wir viel zu junge Mütter mit zwei, drei Kindern, jedoch ohne Ehemänner, die bei der Versorgung helfen." Durch Krieg, Verlust von Angehörigen, Armut und Krankheiten wie Aids sei der einst starke soziale Zusammenhalt der Clangesellschaft im Norden Ugandas zerbrochen. Junge Mädchen würden mehr und mehr zu Freiwild für verantwortungslose Männer, niemand fühle sich hinterher für sie zuständig. Auch Alice hat diese Erfahrung gemacht: Den Vater ihrer heute zwei und fünf Jahre alten Kinder, den sie kurz nach ihrer Flucht kennen lernte, hat sie erst kürzlich verlassen: Sie ertrug seine ständige Trunkenheit, die Demütigungen und Beschimpfungen, dass sie eine "Rebellin" sei, sein Betteln um Geld und Essen und auch die Schläge nicht mehr.

"Diese Mädchen brauchen unsere Hilfe", betont die engagierte Sozialarbeiterin. In den letzten Jahren hat FOWAC daher mit Unterstützung der deutschen Frauenrechtsorganisation medica mondiale ein Projekt aufgebaut, in dem junge, von Gewalt und Ausgrenzung betroffene Frauen psychosozial begleitet werden. In Spar- und Landwirtschaftgruppen lernen sie zudem, sich einen bescheidenen Lebensunterhalt zu verdienen.

In der Hütte ist inzwischen kaum noch etwas zu erkennen. Die Nachmittagssonne senkt sich schnell, Alice zieht den Vorhang am Eingang zur Seite. Draußen wankt ein Betrunkener vorbei, lallt, droht, lässt sich dann von einer Nachbarin zum Weitergehen bewegen. Alice zeigt keine Regung. So sei das nun mal hier. Erst kürzlich ist sie auf eine Frau im Lager mit Fäusten losgegangen, weil diese sie wegen ihrer Vergangenheit beleidigt hatte. Solche Wutausbrüche hat sie öfters, die Zeit im Busch sei daran schuld. Sie hat gelernt, sich gegen die Anfeindungen der Anderen zu wehren. Einsamkeit ist der Preis dafür.
Hat sie keine Angst, dass die Rebellen zurückkommen? Die seien weit weg, in der Zentralafrikanischen Republik, habe man ihr gesagt. Sie fürchte sich nicht mehr – sehr überzeugt scheint sie dabei nicht.

"medica mondiale" setzt sich seit 1993 für traumatisierte Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten ein. Dabei versteht sich die Organisation als Anwältin für die Rechte und Interessen von Frauen, die sexualisierte Kriegsgewalt überlebt haben. Neben gynäkologischer Versorgung, psychosozialer und rechtlicher Unterstützung bietet medica mondiale Programme zur Existenzsicherung und leistet politische Menschenrechtsarbeit. 2008 erhielt die Gründerin der Organisation Monika Hauser den Right Livelihood Award, auch bekannt als Alternativer Nobelpreis.

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medica mondiale e.V. gibt unter dem Titel "Sexualisierte Kriegsgewalt und ihre Folgen" ein Handbuch zur Unterstützung traumatisierter Frauen in verschiedenen Arbeitsfeldern heraus. Die 2., überarbeitete und erweiterte Auflage erschien 2006 im Mabuse-Verlag und kostet 34,90 Euro
Mehr unter: www.medicamondiale.org

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

"AVIVA beteiligt sich - Im Einsatz für Frauen in Kriegs- und Krisengebieten – Eine Kampagne von medica mondiale"

"Die Ärztin Dr. Monika Hauser erhält den Alternativen Nobelpreis 2008"

"medica mondiale: Sexualisierte Kriegsgewalt und ihre Folgen", ein Beitrag aus 2004. Inzwischen ist das "Handbuch zur Unterstützung traumatisierter Frauen" in einer neuen, überarbeiteten Auflage entstanden (s. oben)

"Feuerherz", ein Film nach der Biographie von Senait Meharie

"Kein Herz aus Eis - Senait im Interview"

"Lost Children"


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Beitrag vom 21.02.2011

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