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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 12.07.2010


Breath Made Visible. Revolution in Dance. Anna Halprin - Ein Film von Ruedi Gerber
Evelyn Gaida

Anna Halprins Leben und Werk sind in jeder Beziehung bahnbrechend. Am 13. Juli 2010 feiert die Pionierin des modernen Tanzes und Performance-Künstlerin ihren 90. Geburtstag. Sie tanzt noch immer.




Ihr Vermächtnis wird es sein, so hofft Halprin, den Tanz neu definiert zu haben. Dazu gehört für sie auch die Auffassung, dass unter "Tanzen" nicht nur junge Körper auf einer Bühne zu verstehen seien. Schon die ersten Szenen des Dokumentarfilms "Breath Made Visible", den der Schweizer Filmemacher Ruedi Gerber dem Leben dieser Ausnahmekünstlerin widmet, räumen mit Klischeevorstellungen von rüstigen RentnerInnen auf. Ohne vorhergehende Einführung werden die ZuschauerInnen durch eine Performance Halprins sofort in den Bann der Tänzerin gezogen. Nach anfänglicher Maskierung kommt ein braungebranntes, wetter- und lebensgegerbtes, aber alterslos wirkendes Gesicht mit leuchtend grünen Augen zum Vorschein. Fließende Grenzen zwischen Kunst und Leben, Spiritualität und Körper - Grenzüberschreitung an sich - sind zentral für Halprins Schaffen.

© Projektor Filmverleih und Filmproduktion


Die Charismatikerin

Gerber entschied sich bewusst gegen einen chronologisch aufgebauten "biografischen Lehrfilm", obwohl Halprin außerhalb der Szene und Geschichte des modernen Tanzes, wo sie den Status einer `lebendigen Legende´ innehat, keinem breiten Publikum bekannt ist. Er möchte die Künstlerin nach eigener Aussage ihr Charisma entfalten lassen, die ZuschauerInnen berühren und wie bei einem Spielfilm emotional einbinden. Der Regisseur kreiert eine Collage aus aktuellen Interviews, Auftritten der letzten Jahre und Archivmaterial, das zum Teil bisher unveröffentlicht war: Prägende Abschnitte und Projekte in Halprins Werdegang, ihre Arbeit unter freiem Himmel, in der für sie so essenziell wichtigen Natur, Progressives und Privates werden mit ihrem eigenen Erzählen hinterlegt, das von Erkenntnis und Poesie erfüllt ist. Diese Mischung von Bildern, Sprache und (Tanz-)Bewegung schafft eine magische Intensität - das Gesagte nimmt sprichwörtlich Gestalt an.

© Projektor Filmverleih und Filmproduktion


Gott ist ein Tänzer

Schon früh - genauer gesagt: als Fünfjährige beim Ballettunterricht - entfernte sich die Künstlerin vom Tanzen im Sinne einer Folge festgelegter Schritte. Tanz hat für sie eine umfassende Bedeutung: Er bildet einen Energiefluss und -austausch zwischen eigenem Selbst und Welt ab, dem der Körper und alle Sinne als hochsensibles Apperzeptionsorgan dienen. Wie eine fließende Skulptur formt Tanz in Halprins Verständnis den Vorgang seiner eigenen Entstehung und damit den kreativen Prozess selbst in immer neuen Facetten und Möglichkeiten.

Alles ist Tanz oder kann laut Halprin dazu werden: Der Flug eines Vogels und das Ziehen der Wolken, die Wellen des Meeres, das Dastehen eines Baums, Bewegungen des Alltags, ein Geruch, ein Ton, ein Anblick. Es ginge darum, den Phänomenen der Umwelt sein Bewusstsein zu öffnen und diese Erfahrung in Bewegung umzusetzen. Halprins jüdischer Großvater habe beim Beten getanzt und in der Kindheit bei ihr die Vorstellung geprägt, Gott sei ein Tänzer, sagt die Künstlerin, die am 13. Juli 1920 in Wilmette, Illinois als Tochter litauischer ImmigrantInnen unter dem Namen Anna Schumann geboren wurde. Ihre frühen Soloauftritte kreisten mehrere Jahre lang um jüdische Themen und Motive. Halprins Auffassung fußt auf einer zutiefst humanen Grundüberzeugung: "I learned that we were all dancers, that we all had the birthright to be a dancer."

Gerber illustriert die Gedanken der Tänzerin mit einem angemessen eigenwilligen Bild- und Szenenwechsel, der eine Art sichtbaren "stream of consciousness" gestaltet: Halprin, bei einem Auftritt im Jahr 2002 tanzend ihre Lebensgeschichte aufführend, Halprin, umgeben von im Wind raschelnden Ähren auf einem sommerlichen Feld, sich bei einer Performance am Pazifischen Ozean im Alter von 82 Jahren den Wellen hingebend, von Kopf bis Fuß in ein weißes Tuch gehüllt - als würde das Meerwasser zu einem undefinierbaren lebendigen Körper gerinnen.

"People always used a form of dance to make sense of the mystery of life": Kunst, Leben und Spiritualität gehen bei Halprin eine unauflösliche Symbiose ein, Tanz wird bei ihr zum Inbegriff des Lebens als ganzheitlicher Zusammenhang, zur unabschließbaren Suche nach seiner Essenz. "Dance is the breath made visible", so die Tänzerin, "and that covers about everything."

Soziales und Existenzielles

Diese Philosophie hat Halprin in eine Vielfalt von Projekten umgesetzt. Auf ihrem legendären, im Freien zwischen Mammutbäumen gelegenen Tanzboden arbeitete die Künstlerin mit zahlreichen TänzerInnen und ChoreographInnen zusammen. In stummfilmartigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen gewährt die Dokumentation den Eindruck eines zeitenthobenen, stillen Beobachtens dieser privaten Tanz-Sessions. Schon in den 1950er Jahren gründete Halprin den später weltberühmten San Francicsco Dancers Workshop und sorgte Mitte der 60er Jahre gemeinsam mit John Graham und A.A. Leath auf Tour in Europa und den USA für Furore und Skandale: Während der Performance "Parades and Changes" zeigten sich die TänzerInnen in einigen Sequenzen völlig nackt.

© Projektor Filmverleih und Filmproduktion


Halprins Kunst hatte immer auch eine stark soziale Ausrichtung. Während der amerikanischen Rassenunruhen in den späten 60er Jahren gründete sie als Erste eine multikulturelle Company von Schwarzen und Weißen. Sie zählt zu den PionierInnen der Expressive Arts-Heilungsbewegung und arbeitet als Lehrerin und Tanztherapeutin mit älteren Menschen und (unheilbar) Krebs- oder Aidskranken. Im Alter von 50 Jahren war sie selbst schwer krebskrank und gezwungen, sich und das Tanzen abermals neu zu erfinden. Obwohl sie für lange Zeit nicht auftreten konnte, entdeckte sie den Tanz als kathartisches Medium und im Angesicht einer lebensbedrohlichen Krankheit erneut als Mittel der Selbstermächtigung ("Dark Side Dance", 1975).

Mit dem existenziellen Verhältnis von eigenen Möglichkeiten und ihren unweigerlichen Grenzen sah Halprin sich ein weiteres Mal mit aller Härte konfrontiert, als ihr Mann, der renommierte Landschaftsarchitekt Lawrence Halprin, ebenfalls lebensgefährlich krank wurde. Zwar erholte er sich, verstarb aber am 25. Oktober 2009 kurz nach den Dreharbeiten im Alter von 93 Jahren. Die Halprins waren 65 Jahre lang verheiratet und gaben sich als Kollaborateure gegenseitig entscheidende Impulse. Anna verarbeitete die Besuche auf der Intensivstation und die Schwebe zwischen Leben und Tod in der Choreographie "Intensive Care" (2004), einer aufrührenden Auseinandersetzung mit menschlicher Endlichkeit.

Als über 80-Jährige kehrte Halprin auf die Bühne zurück, trat in den folgenden Jahren erfolgreich in Paris, San Francisco, Washington und New York auf, wo sie ihre unerschöpfliche Lebensenergie und ihren Humor Funken schlagen ließ. Existenzielle Erfahrung, Komödie, Kunst und (elementares) Erlebnis verschmelzen in Halprins Schaffen und Persönlichkeit zu einem Ausdruck, der unvergesslich ist.

AVIVA-Tipp: Durch einen kontinuierlichen und energetischen Wechsel zwischen Performance und Lebenszeugnis, Aufruhr und Stille, Vergangenem und Gegenwärtigem fesselt Gerbers Film von der ersten bis zur letzten Minute. Es gelingt ihm, etwas von der Poesie und Magie einzufangen, die Anna Halprins Kunst und Ausstrahlung vermitteln. Ein in jeder Hinsicht bereicherndes und inspirierendes Film-Erlebnis.

Zum Regisseur: Ruedi Gerber führte vor der Dokumentation "Breath Made Visible" Regie in seinem ersten amerikanischen Spielfilm "Heartbreak Hospital" (2002). Der Filmemacher hat bereits verschiedene preisgekrönte Dokumentarfilme gedreht, darunter: "Meta-Mecano" (1997), ein Film über Jean Tinguelys und Niki de Saint Phalles Einzug in das von Mario Botta gebaute Tinguely Museum, "Living with the Spill", eine Dokumentation über die Ölpest vor der Küste Alaskas für den Britischen Sender Channel 4. Darüber hinaus hat Gerber bei einer Anzahl preisgekrönter Kurzspielfilme Regie geführt: "Café Mecanique" und "Midnight Barbeque". Ebenfalls ausgezeichnet wurde seine Auftragsserie kurzer Comedy-Filme zum Thema Misskommunikation, "Communication At Your Workplace".
Ruedi Gerber absolvierte die Filmschule an der Tisch School of the Arts an der New York University, die er 1990 abschloss. Bevor Gerber als Filmregisseur zu arbeiten begann, trat er in über 30 Theaterstücken auf den Bühnen von Mannheim, Dortmund, Wuppertal, Wien und Basel auf. Außerdem tourte er mit seiner Ein-Mann-Show "Spiwit of Spwing", für die er als Autor, Regisseur und Darsteller verantwortlich zeichnete, über den europäischen Kontinent.

"Breath Made Visible" wurde im Jahr 2009 beim Filmfestival in Locarno bereits mit dem Semaine de la Critique-Preis ausgezeichnet und gewann beim Mill Valley Film Festival den Publikumspreis "Certificate of Excellence".

Breath Made Visible
USA / CH 2009
Originalfassung (Englisch) mit deutschen Untertiteln
Produktion und Regie: Ruedi Gerber
Kamera: Adam Teichmann
Verleih: Projektor Filmverleih und Filmproduktion
Lauflänge: 95 Minuten
Kinostart: 15. Juli 2010

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.annahalprin.org

www.breathmadevisible.com

jwa.org

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