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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 23.11.2016


Barbara Hahn - Endlose Nacht. Charlotte Beradt - Das Dritte Reich des Traums
Silvy Pommerenke

"Dieses Buch begibt sich auf die Suche" nach dem verborgenen Ort, an dem die Erfahrungen aus dem Jahrhundert der Gewalt liegen. Denn, so die Theorie, Träume verschwinden im Gegensatz zur Realität nie.




Beginnend mit dem Ersten Weltkrieg zeichnet die Professorin für Germanistik an der Vanderbilt University, Barbara Hahn, anhand von Brief- und Textauszügen von LiteratInnen und Intellektuellen nicht nur die Schrecknisse des 20. Jahrhunderts nach, sondern auch die intellektuellen Diskurse und Reflexionen über den Traum und seine Bedeutung. Dass da Bezug auf Freuds Traumdeutung bzw. sein Strukturmodell genommen wird, liegt auf der Hand. Erhellendes erfährt frau/man auch durch die Debatte zwischen Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, der anfangs von Benjamins Traumaufzeichnungen tief beeindruckt war. Bald aber schon führte die unterschiedliche Betrachtungsweise "kollektives Unbewusste" versus "Traum des Kollektivs" zu getrennten Wegen.

Dieser Diskurs fand Mitte der Dreißigerjahre statt. Hahn lässt auf diesen Diskurs die Stimme Charlotte Beradts folgen, die seit den Dreißigerjahren "von der Diktatur diktierte Träume" von Menschen unter der Nazi-Diktatur sammelte. Ein ungewöhnliches und einzigartiges Unterfangen, was die Gräuel dieser Zeit und die gequälten Seelen widerspiegelt. Beradt veröffentlichte diese Sammlung 1966 in Westdeutschland und wollte damit belegen, was "eine Diktatur anrichtet". Barbara Hahn hat nun, fünfzig Jahre später, "Das Dritte Reich des Traums" neu herausgegeben und es liest sich als Bereicherung bzw. als Ergänzung zu Hahns eigenem Buch. Beradt traf bereits 1933 die Entscheidung, für die Nachwelt diese Träume zu sammeln. Ihre Vision: "(Sie) könnten zur Evidenz gehören, wenn dem Regime als Zeitphänomen einmal der Prozess gemacht würde". Ihre Motivation war die Darstellung von "psychologische(n) Rektionen und typische(n) Verhaltensweisen von Individuen, die unmittelbare Auswirkung totaler Herrschaft auf den einzelnen Beherrschten". Beradt geht dabei nicht wie Barbara Hahn literaturwissenschaftlich vor, sondern interpretiert die Träume im sozialpolitischen Zusammenhang.

Aus der Sammlung der von Beradt gesammelten Träume wurde nur ein Bruchteil in das Buch aufgenommen. Die Autorin, die 1939 vor den Nazis nach England und 1940 in die USA floh, nimmt in diesem Klassiker der Traumdokumentation gesellschaftspolitische Ausdeutungen der Träume vor, dessen Titel bereits mehrdeutig ist und viel Raum für Interpretationen bereithält.

Dem Unheil des letzten Jahrhunderts durch das Unbewusste des Traums auf die Spuren zu kommen, ist ein psychologisch reizvoller Ansatz. Wenn – um es im Freud´schen Sinne auszudrücken – das Über-Ich als zensierende Instanz fehlt, erscheinen die aufgezeichneten Träume fast verstörender und intensiver, als andere Schriften dieses traurigen Kapitels deutscher Geschichte. Der ungestörte Blick in die Seele der Menschen verrät enorm viel über ihre Ängste, Sorgen und Traumata.

Auch wenn Freud und Jung unterschiedliche Varianten der Traumdeutung vertraten, so waren sie sich dennoch darüber einig, dass Träume grundsätzlich Raum für eine Interpretation eröffnen. Barbara Hahn lässt AutorInnen, PhilosophInnen und andere TraumzeugInnen zu Worte kommen und schafft dadurch eine intellektuelle Annäherung an ein Phänomen, das jenseits des Intellektualismus liegt. Der Traum, eine "bestimmte Art des Menschseins überhaupt", wie der Schweizer Psychoanalytiker Ludwig Binswanger resümiert, der Traum, der "sich vom Wachen dadurch unterscheidet, dass er mit anderen Menschen keinen Kontakt mehr hat", wie Maurice Halbwachs formulierte. Der französische Soziologe, der im KZ Buchenwald umkam und 1939 maßgeblich das Konzept des kollektiven Gedächtnisses prägte, sprach dem Traum das Kollektive und Gesellschaftliche ab und sah in ihm etwas, was nur auf sich selbst beruht.

Hahn weist darauf hin, dass das Aufschreiben von Träumen eine alte Kulturtechnik ist, zugleich aber auch der Übergang von der Nacht in den Tag sei. Als literarisches Genre blühte es vor allem in den 20er und 30er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, aber ohne sich dabei auf Freuds Traumdeutung zu beziehen bzw. ohne sie zu interpretieren. Das Wesen des Traumes zeichnet sich dadurch aus, dass er Erinnerungen an Ereignisse weckt, "die sich nie zugetragen haben". Träume dienen aber auch als Verarbeitung von Gefangenschaft im Gulag oder im KZ, und deren Inhalte werden durch die äußeren Lebenswelten bestimmt: Diktatoren, Soldaten, Verwundete, Zerstörung, Krieg.

Barbara Hahn bei ihrer Lesung am 07. Dezember 2016 im Literaturforum im Brecht-Haus © Silvy Pommerenke


AVIVA-Tipp: Hahn richtet sich mit "Endlose Nacht" explizit an LiteraturwissenschaftlerInnen, indem sie eine exakte Textexegese an ausgewählten Passagen der Werke von Walter Benjamin, Franz Kafka, Ingeborg Bachmann oder Elsa Morante durchführt. Bereichernd und ergänzend dazu bietet sich die Lektüre von Charlotte Beradt an, die 1966 ihren heute als Klassiker geltenden und im September 2016 neu herausgebrachten Band "Das Dritte Reich des Traums" (mit einem Nachwort von Barbara Hahn) veröffentlichte. Beradt nannte ihr Werk bescheiden "ein kleiner Beitrag zur Geschichte des Totalitarismus". Treffender hat es allerdings Siegfried Unseld formuliert: "eine erstaunliche Quellensammlung"!

Zu den Autorinnen:

Barbara Hahn
, geboren 1952, studierte Germanistik, Philosophie und Geographie an der Technischen Universität Berlin, an der Freien Universität Berlin und an der Philipps-Universität Marburg. 1989 wurde sie an der Freien Universität promoviert und erhielt für ihre Dissertation 1990 den Joachim-Tiburtius-Preis. 1993 erfolgte an der Universität Hamburg ihre Habilitation. Nach verschiedenen Gastprofessuren folgte sie 1996 einem Ruf an die Princeton University. Seit 2004 ist sie Professorin für Germanistik an der Vanderbilt University (Nashville/Tennessee). Sie lebt in Nashville und Berlin. www.barbarahahn.info

Charlotte Beradt, Journalistin und Autorin, Ãœbersetzerin und Theaterkritikerin, geboren 1907 in Forst (Lausitz) als Charlotte Aron, gestorben 1986 in New York.
Berufsverbot durch die Nazis 1933.
Sie gab Schriften von Rosa Luxemburg ("Rosa Luxemburg im Gefängnis: Briefe und Dokumente aus den Jahren 1915–1918") und Paul Levi ("Zwischen Spartakus und Sozialdemokratie") heraus, veröffentlichte 1969 die Biographie "Paul Levi. Ein demokratischer Sozialist in der Weimarer Republik".
Charlotte Beradt kehrte aus dem Exil nicht mehr nach Deutschland zurück. Ihre Autobiographie erzählte sie von 1962 bis 1978 in den Radiosendungen unter dem Titel "Diaries".
Charlotte Beradt übersetzte fünf politische Essays von Hannah Arendt aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche. In der Verfilmung "Hannah Arendt" unter der Regie von Margarethe von Trotta wurde sie als Nebenfigur dargestellt, die sich vor allem zu Hannahs Ehemann hingezogen fühlt
Ihr Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach.



Barbara Hahn
Endlose Nacht

Suhrkamp Verlag, erschienen Oktober 2016
Gebunden, 201 Seiten
ISBN 978-3-518-42565-7
Euro 22,00
www.suhrkamp.de



Charlotte Beradt
Das Dritte Reich des Traums

Mit einem Nachwort von Barbara Hahn
Suhrkamp Verlag, erschienen September 2016
Gebunden, 173 Seiten, mit Lesebändchen
ISBN 978-3-518-22496-0
Euro 22,00
www.suhrkamp.de

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Beitrag vom 23.11.2016

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