Carry Ulreich - Nachts träum ich vom Frieden. Tagebuch 1941 bis 1945 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 21.04.2018


Carry Ulreich - Nachts träum ich vom Frieden. Tagebuch 1941 bis 1945
Nea Weissberg

Das bewegende Zeugnis einer jüdischen Heranwachsenden, die den Krieg zusammen mit ihrer älteren Schwester und den Eltern in einem Versteck in Rotterdam überlebte, weil sie eine befreundete katholische Familie schützte. Das junge Mädchen schildert in ihrem Tagebuch den Alltag dieser Zeit, beschreibt die Beziehungen zwischen den Versteckten und denen, die sie aufnahmen. Ihr Überleben führte sie 1946 nach Jerusalem. Heute lebt sie mit ihrer vielköpfigen Familie in Tel Aviv. Familie Zijlmans wurde in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" geehrt.




"Wenn du untergetaucht bist, bist du für die Welt gestorben"

Die Buchpremiere von "Nachts träum ich vom Frieden. Tagebuch 1941 bis 1945" fand am 20. März 2018 in Berlin in Anwesenheit der 92jährigen Autorin Carry Ulreich statt. In der Botschaft des Königreichs der Niederlande führte der niederländische Historiker Bart Wallet ein Gespräch mit ihr. Aus der deutschen Übersetzung lasen die Schauspielerinnen Lena Stolze und Hannah Schutsch.

Der Historiker führte in die Tagebucheintragungen der Holocaust Überlebenden Carry Ulreich ein und kommentierte die Eintragungen im "Tagebuch aus dem Versteck" dort, wo sie ohne Hintergrundwissen über die Verfolgungsgeschichte der 13.000 in Rotterdam lebenden Juden für die heutige LeserInnenschaft schwerverständlich wäre. Mit seiner Darstellung historischer Fakten schaffte er eine Grundlage für den Einstieg ins Journal.

"Während Anne Frank aus einer liberalen deutsch-jüdischen Familie stammte und einen universellen Blick auf die Welt entwickelte, zeigt Carry Ulreich, wie traditionelle osteuropäische Juden zu einer speziellen jüdischen Perspektive auf den Krieg, die Welt und die Zukunft gelangen."

In den nach Tag, Monat und Jahr datierten, wöchentlichen Aufzeichnungen Ulreichs, einem ergreifenden Zeitzeuginnenbericht, erfahren wir, welche emotionalen Nachwirkungen ausgelöst werden durch jahrelang erlittene Verfolgung, Ausgestoßen-Sein aus der Gesellschaft, Schutzlosigkeit, existentielle Bedrohung, Raub und Plünderungen jüdischen Eigentums, Untertauchen im Versteck, Flucht, Leben in der Illegalität, andauernder Kampf ums Überleben, Furcht vor Gejagt- und herabgesetzt werden, nervenzehrender Schrecken vor Razzien, Hausdurchsuchungen, Angst vor Enttarnung, Denunziation, Verrat und Verhaftung, Exekutionen, Deportationen, gewaltsame Lebensberaubung...

Ulreich setzt den menschenverachtenden Erlebnissen etwas entgegen: Sie beschreibt den erfahrenen Zusammenhalt innerhalb einer Schutz und Solidarität bietenden katholischen Familie, benennt leise Alltagszweifel im Wechsel mit Lebensübermut, erzählt von der Hilfe durch Protektion und einer konspirativen Logistik, die zu ihrem gewöhnlichen Wochentag gehörten.

"Wenn ich so weitermache, wird das hier ein Faktenbuch statt eines Buches mit persönlichen Eindrücken und Gedanken. Aber es geht nicht anders. Das Hier (die Politik) ist doch mit dem Leben verbunden..."

Die Dimension der Menschenvernichtungsaktion der deutschen NS-Besatzer in Europa war so heftig, dass es als eine nachträgliche Verhöhnung erscheinen muss, wenn die Mehrheit der Deutschen nach 1945 vorgab, davon nichts gewusst zu haben.

"Ein Thema, das in den vergangenen Jahren viele Debatten ausgelöst hat, ist die Frage, inwieweit Niederländer im Allgemeinen und Juden im Besonderen wussten, was die Deportierten ´im Osten´ erwartete. Dem Tagebuch von Carry Ulreich lässt sich entnehmen, dass bereits im Jahr 1942 über das englische Radio – dessen Sendungen die Familie trotz des Sabbatverbots verfolgte – bekannt wurde, dass man in Polen in großer Zahl Juden ermordete.". Für die Ulreichs war "Polen" gewissermaßen ein Synonym für Tod und Vernichtung.

Tagebucheintrag am 11. Mai 1943:

"Wenn die Menschen nicht mehr da sind, lernt man sie erst zu schätzen. So auch bei ihr (gemeint ist Helena van Zwanenbergh, Leny genannt)... Als ich sie noch hatte, fand ich sie sehr nett, ich bin ein paar Mal mit ihr weggegangen... Aber jetzt, wo sie in Polen (!) ist und wahrscheinlich nicht mehr lebt, hätte ich so schrecklich gern noch einmal mit ihr gesprochen, über alles Mögliche."
Leny, geboren 1924 in Rotterdam, wurde 1943 in Auschwitz ermordet.

Carry Ulreich hat 32 Jahre lang kein Deutsch gesprochen, erzählte sie bei der Buchpremiere. Ihr Buch sei für sie wie eine Geburt, etwas Eigenes und Privates, das zu ihr gehöre, durch sie geschaffen wurde.

Das Tagebuch hat zwei Erzählstränge, einen sehr persönlichen, mädchenhaft emotionalen und ein erstaunlich reflektiertes Bemühen einer jungen Heranwachsenden, eine geschichtliche Einordung von dem, was sich im wirklichkeitsbezogenen Kriegs-Geschehen um sie herum ereignet, aufzuschreiben.

Tagebucheintrag am 1. Juni 1943:

"Ja, Kinder, das schreibe ich für euch auf, damit ihr wisst, wie man euer Volk behandelt hat. Und für mich selbst, damit ich nicht vergesse, wovon wir bisher verschont geblieben sind! Denn wenn wir am Leben bleiben, dann kann ich es euch vorlesen, und wenn nicht, wenn wir entdeckt werden und dasselbe Schicksal erleiden müssen, dann wird dieses Heft sicher von den feigen Moffen (gemeint ist die deutsche Besatzungsmacht in der NS-Zeit. Anm. der Rezensentin) vernichtet. Sind das noch Menschen? Nein, nein, nein, es sind Tiere, die alles zerfetzen!!! Wahrscheinlich ist in Warschau kein Jude mehr übrig..."

Ihrem Journal vertraut sie ihre lautlosen Tränen an. Zu schreiben gibt ihr eine Stütze, hilft ihr, ihre Erlebnisse durchzudenken, ihren Gefühlen, Teenager-Träumen, Sehnsüchten und Idealen freien Lauf zu lassen. Sie ist von Grund auf optimistisch, ein fröhlich, aufgeschlossener Mensch, der Anderen in jener Zeit Trost geben konnte.

Carry Ulreich entstammt väterlicherseits einer jüdisch, religiös-traditionell polnischen und mütterlicherseits einer assimiliert polnischen Familie. Die Eltern sprachen In Polen jiddisch und polnisch, in Rotterdam lernen sie niederländisch und fühlen sich in ihrer neuen Heimat aufgenommen.

Ihre beiden Töchter, Carry und die ältere Schwester Rachel, lernen Zuhause niederländisch und polnisch, in der Schule deutsch und englisch. In Rotterdam in einer osteuropäischen MigrantInnen-Familie des gehobenen Mittelstandes geboren, erhalten die Schwestern eine klassisch großbürgerliche und eine jüdische Erziehung, samt einer Halt gebenden zionistisch geprägten Identität. Die Schwestern lernen Hebräisch und erhalten Kenntnisse in Palästinakunde, die jüdischen Feiertage werden in der Familie und auch in der zionistisch geprägten Jugendföderation begangen.

Erez Israel, das Mandatsgebiet Palästina, galt der Familie als Ort der Sehnsucht. Gleichwohl ihre Staatsbürgerschaft in den 1940ziger Jahren niederländisch ist, prägt auch dieser Fakt die gesellschaftspolitische Einstellung der Familie.

Den ersten Eintrag in ihrem Tagebuch hat die 14 Jahre alte Carry am 17. Dezember 1941 vorgenommen. Da lebt sie noch mit ihrer Familie in der eigenen Wohnung in der Witte de Withstraat Rotterdam. Ab dem 1. September 1941 müssen sie und ihre Schwester – laut Anordnung der deutschen Besatzungsmacht – das Jüdische Lyzeum Rotterdam in der Jeruzalemstraat besuchen. Ab dem 3. Mai 1942 wurden Juden zwangsverpflichtet einen gelben "Judenstern" sichtbar an der Kleidung zu tragen, der sie stigmatisierte und gefährdete.

"Einen gelben Stern mit schwarzer Umrandung, in dem mit schwarzen Buchstaben "Jude" steht... Auf Brusthöhe links. Alle finden es schrecklich."

Im Gegensatz zu dem tragischen Schicksal der Anne Frank und ihrem weltweit bekannten Tagebuch, hat Carry Ulreich die Jahre im Untergrund, den millionenfachen Mord am jüdischen Volk überlebt.

Die Familie Ulreich überlebte aufgrund der Unerschrockenheit der christlichen Familie Zijlmans. Das Ehepaar Zijlmans und ihre vier Kinder nahmen idealistisch und großmutig die Familie Ulreich in ihre Etagenwohnung im Mathenesserweg 28 vom 18. Oktober 1942 bis Mai 1945 auf. Zudem deuten die Aufzeichnungen Ulreichs Verbindungen zu anderen Widerständigen in der illegalen Anonymität an, zu denen die Zijlmans Kontakt hatten.

Bram de Lange, der Verlobte von Rachel Ulreich, "verhalf der Familie Ulreich zu einer Untertauchmöglichkeit. Als Wirtschaftsstudent hatte er Kontakte zu nichtjüdischen Mitstudierenden. Zu ihnen gehörte auch eine gewisse Frouke Mulder. Sie stellte den Kontakt zwischen Bram und Manus Frank aus Wageningen her, der zu dieser Zeit der Freund von Mies Zijlmans war. Man hatte Bram bereits angeboten, er könne im Notfall bei der Familie Zijlmans untertauchen. Als sich allerdings im September 1942 herausstellte, dass Bram seine Sperre dank Froukje noch behielt, die Ulsteins ihre jedoch verloren, bat man die Familie Zijlmans, doch den Eltern Unterschlupf zu gewähren. Nach ausführlichen Beratungen teilte die Familie mit, sie wolle nicht nur den Eltern, sondern auch Rachel unterbringen." Carry konnte eine Zeit später ebenfalls dazukommen.

Die Familie Zijlmans half unter Bedrohung für ihr eigenes Leben, der Familie Ulreich, sie versteckten sie und versorgten sie mit Lebensmitteln. In der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem wurden die Zijlmans als "Gerechte unter den Völkern" geehrt.

Der innige Wunsch nach Frieden sowie die Sehnsucht nach Liebe spielen in Ulreichs Aufzeichnungen eine besondere Rolle. Sie lernte nach der Befreiung den Hebräisch-Soldatenlehrer Jonathan Mass kennen. Er gehörte der Jüdischen Brigade an, die sich aus Freiwilligen der jüdischen Gesellschaft in Palästina zusammensetzte. "Innerhalb eines Jahres schloss sie die weiterführende Mädchenschule ab und heiratete am Tag nach der Zeugnisvergabe – dem 30. Juni 1946 – in der Synagoge an der Joost van Geelstraat den Jewish Brigade-Soldaten Jonathan Maas (1922-2003). Zusammen schifften sie sich nach Palästina ein und kamen am 22. Juli 1946 in Jerusalem an..."

Ihr Sohn Oren Mass, Verleger in Jerusalem, sagt mit Worten, die die Rezensentin sehr berührten: "Seien wir froh, dass Carry überlebt hat, eine Frau, zu der nun insgesamt über 100 Kinder, Enkel und Urenkel gehören. Wie viele Menschen könnten heute am Leben sein, wenn die sechs Millionen Juden nicht vernichtet worden wären?"

AVIVA-Tipp: Dieses Tagebuch sollte einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland zugänglich gemacht werden, da es insbesondere Jugendlichen einen differenzierten Einblick in die Zeitgeschichte und in die Gefühle eines jungen Menschen in Not gewährt. Die Berichte Carry Ulreichs zeigen, dass es auf die innere und politische Haltung sowie auf den persönlichen Einsatz jedes Einzelnen ankommt.

Zur Autorin: Carry Ulreich wurde 1926 geboren, verbrachte den Zweiten Weltkrieg mit ihrer Familie in einem Versteck in Rotterdam und wanderte danach nach Israel aus. Sie lebt, einundneunzigjährig, mit ihrer vielköpfigen Familie in Tel Aviv.

Zur Übersetzerin: Simone Schroth übersetzt Belletristik und Sachbuch aus dem Englischen und Niederländischen. Zu ihren Übersetzungen gehören u.a. eine Auswahl von Texten Anne Franks (2016).

Carry Ulreich
Nachts träum ich vom Frieden
Tagebuch 1941-1945

Ãœbersetzerin: Simone Schroth
Halbleinenband, 380 Seiten, mit 12 Abbildungen
Mit ausführlichem Quellenanhang
Aufbau Verlag, erschienen 09. März 2018
978-3-351-03706-2
22,00 Euro
Mehr zum Buch unter: www.aufbau-verlag.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Gertrude Pressburger und Marlene Groihofer - Gelebt, erlebt, überlebt
Sie hat Auschwitz überlebt – als einzige ihrer Familie kehrte Gertrude Pressburger 1947 nach Wien zurück. Im Alter von 90 Jahren erzählte die Zeitzeugin erstmals in einem Radio-Interview von ihrem Schicksal und appelliert mit ihrem YouTube Video "Meine letzte Bundestagswahl" insbesondere an die Jugend, sich politisch zu bilden und Rechtsextremismus entschieden entgegenzutreten. (2018)

DIE UNSICHTBAREN - WIR WOLLEN LEBEN. Kinostart 26.10.2017
Berlin, 1943. Das Nazi-Regime hat Berlin offiziell für "judenrein" erklärt. Doch einigen Juden und Jüdinnen gelingt das Undenkbare. Sie beschließen zu "flitzen" und gehen in den Untergrund. Das Dokudrama erzählt stellvertretend für 7.000 Untergetauchte die Geschichte von vier jungen Berliner Jüdinnen und Juden, die sich für die Gestapo unsichtbar machen und durch pures Glück und in immer wechselnden Verstecken der Deportation entkommen können: Cioma Samson Schönhaus, Hanni Lévy, geb. Hannelore Weissenberg, Ruth Gumpel, geb. Arndt, Eugen Herman-Friede.

Juden und Muslime in Berlin während der Nazizeit - Anna Boros und ihre Rettung durch den ägyptischen Arzt Mod Helmy
Zwei Autoren haben unabhängig voneinander diese Geschichte nachrecherchiert. Ronen Steinke mit "Der Muslim und die Jüdin. Die Geschichte einer Rettung in Berlin" und Igal Avidan in "Mod Helmy. Wie ein arabischer Arzt in Berlin Juden vor der Gestapo rettete". (2017)

Else Krell - Wir rannten um unser Leben. Illegalität und Flucht aus Berlin 1943. Herausgegeben von Claudia Schoppmann
Sorgfältig und kenntnisreich hat die Historikerin und Publizistin die ihr anvertrauten Erinnerungen und Manuskripte in Buchform aufbereitet und schließlich, sechs Jahre später, eine Veröffentlichung erwirkt. (2016)

Ilse-Margret Vogel - Über Mut im Untergrund. Eine Erzählung von Freundschaft, Anstand und Widerstand im Berlin der Jahre 1943-1945
Wie konnten Verfolgte im Berliner Untergrund während des NS überleben? Und wie haben die wenigen, die ihnen halfen, den Mut dazu aufgebracht? Die Erinnerungen von Ilse-Margret Vogel entfalten die Perspektive einer nichtjüdisch-deutschen, selbstbestimmten und moralisch autonomen Frau, die mit Verfolgten des NS-Regimes trotz der Propaganda befreundet bleibt, ihnen Unterschlupft bietet und sich bis Kriegsende erfolgreich verweigert den Hitler-Gruß auszuführen. (2015)

Regina Steinitz mit Regina Scheer - Zerstörte Kindheit und Jugend. Mein Leben und Überleben in Berlin. Herausgegeben von Leonore Martin und Uwe Neumärker
Die "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" gibt die "Zeitzeugenreihe" heraus, in der Holocaust-Überlebende zu Wort kommen, von denen viele erst im hohen Alter von dem traumatisch Erlebten ihrer Kindheit und Jugend berichten können. (2015)

Marie Jalowicz Simon - Untergetaucht
50 Jahre "danach", am Ende ihres Lebens, hat Marie Simon, Altphilologin und Philosophiehistorikerin an der Humboldt-Universität, ihre Überlebensgeschichte "ausgeschüttet wie einen Eimer Wasser, so ihr Sohn Hermann Simon, Direktor der Stiftung "Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum". Unmittelbar danach ist sie 1998 gestorben. (2014)

Mirjam Pressler - Grüße und Küsse an alle - Anne Franks Familiengeschichte in Briefen
Mirjam Pressler, vielbeschäftigte Autorin und Übersetzerin aus dem Hebräischen, hat umfangreiche Briefwechsel aus der Familie des weltweit wohl berühmtesten Opfers des Holocaust herausgegeben. (2009)

Als Jüdin versteckt in Berlin
"Versuche, dein Leben zu machen". Diese Worte hinterließ die Mutter der 21-jährigen Margot Bendheim, als sie deportiert wurde. Sechzig Jahre später erzählt sie ihre bewegende Geschichte. (2008)




Literatur

Beitrag vom 21.04.2018

Nea Weissberg