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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 26.04.2013


Das Weiterleben der Ruth Klüger. Ein Film von Renata Schmidtkunz. Kinostart 9. Mai 2013
Sabine Reichelt

Renommierte Literaturwissenschaftlerin, gefeierte Autorin, Feministin, Mutter, Großmutter, Überlebende der Shoa. Die Dokumentation zeigt eine facettenreiche und beeindruckende Persönlichkeit...






...beim Denken an verschiedenen Schauplätzen ihres Lebens und Wirkens.

In Wien durfte Ruth Klüger in den 1930er Jahren als jüdisches Mädchen weder ins Kino gehen noch auf Parkbänken sitzen. Später, 2008, ehrt die Stadt sie mit der Aktion "Eine STADT. Ein BUCH." Dabei wurde ihre Autobiographie "weiter leben – Eine Jugend", in der die Autorin von der Verfolgung im nationalsozialistischen Österreich und dem Schrecken der Konzentrationslager berichtet, in einer Auflage von 100.000 Exemplaren gedruckt und gratis an die Bevölkerung verteilt. Versöhnt hat sich Ruth Klüger mit ihrer Geburtsstadt trotzdem nicht. Ihr Zitat "Wiens Wunde, die ich bin, und meine Wunde, die Wien ist, sind unheilbar", ist dem Film vorangestellt. Kritisch äußerte sie sich auch gegenüber dem SPIEGEL in einem Interview von 2006: "Wien schreit nach Antisemitismus."

Heute lebt Klüger den Großteil des Jahres in Irvine, wo sie als Professorin für Literaturwissenschaft an der University of California lehrte. "Zwei Drittel der Identität ist amerikanisch," erklärt sie, als die Filmemacherin Renata Schmidtkunz sie in ihrem Haus besucht. Und dass sie stolz darauf sei, amerikanische Kinder zu haben. In Obama setzt sie Hoffnungen, war selbst Teil der Euphorie des Wandels und betrachtet diese doch auch aus einer kritischen Distanz. Schließlich sei es nie gut, die Vernunft zu verlieren.

Davon allerdings ist die Autorin weit entfernt. Für den Film fährt sie gemeinsam mit der Regisseurin in das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen, wohin sie selbst gebracht worden wäre, wäre ihr nicht 1945 auf einem "Todesmarsch" gemeinsam mit ihrer Mutter und einer Freundin die Flucht gelungen. Dem SPIEGEL hatte Klüger 2006 noch gesagt, "ich gehe nicht in diese KZ-Stätten". Nun sehen wir sie vor dem Gedenkstein Anne Franks, die nur wenige Wochen vor der Befreiung des Lagers an Typhus starb. Die Überlebende hält nichts von "sentimentalen Sprüchen", die dem sinnlosen Morden im Nachhinein einen Sinn geben wollen und auch an eine Vorsehung glaubt sie nicht. Dass sie im KZ gewesen ist, dass ihr die Flucht gelungen ist, im Gegensatz zu Anne Frank, all das hält sie für einen Zufall.

Renata Schmidtkunz kommt Ruth Klüger nicht nur intellektuell, sondern mit ihrer Kamera auch körperlich sehr nahe, dringt in private Sphären ein. Und Klüger akzeptiert dies uneitel, lässt sich zeigen bei so gewöhnlichen, aber intimen Verrichtungen wie dem morgendlichen Teekochen im Bademantel, beim Kämmen oder beim Schwimmen im Pool. Große Gedanken treffen auf Alltägliches. So reflektiert Ruth Klüger als Feministin über die doppelte Ausbeutung der Frau und hat als Germanistin immer wieder Literatur von Frauen in den Fokus gerückt. Eine befreundete Kollegin schätzt an ihr, "(that) she can write about classical subjects that many others have written about, but she sees things differently."

Andere Blicke auf die Protagonistin lässt auch Schmidtkunz zu, denn außer Ruth Klüger selbst kommen auch Menschen zu Wort, die ihr nahe stehen. An erster Stelle ihre beiden Söhne natürlich, zu denen die Mutter ein gutes, aber distanziertes Verhältnis hat. Ihr Sohn Dan meint, Ruth Klüger besitze eine Rüstung, die es zu durchdringen gelte, um dann zu erkennen, was für eine großartige und erstaunliche Frau sie ist. Beide, Dan und auch Percy, sprechen kein Deutsch, was sie heute bedauern, und können deshalb die Liebe ihrer Mutter zu deutscher Literatur nur bedingt nachempfinden.

Klüger selbst hatte zu ihrer eigenen Mutter eine schwierige Beziehung, fühlte sich von ihr klein gemacht. Gemeinsam überlebten sie Theresienstadt, Auschwitz und Groß-Rosen und emigrierten 1947 in die USA, wo die junge Frau erst in New York und später in Berkeley Bibliothekswissenschaften und Germanistik studierte. Ihr Vater hatte vor der Deportation seiner Familie nach Frankreich fliehen müssen und wurde später von den Nationalsozialisten ermordet.

Nach einer Professur in Princeton wurde Klüger unter anderem Gastprofessorin in Göttingen. Dort verbringt sie auch heute noch einige Monate im Jahr. 1988 erlitt die Wissenschaftlerin in der niedersächsischen Stadt einen Unfall mit einem Radfahrer und lag im Koma – der Impuls für "weiter leben". "Ich wollte die Zeitgeschichte durch den Filter einer persönlichen Erfahrung beschreiben. Klarer machen, wie es sich mit den Nuancen verhält für jemanden, die das als Kind erlebt hat." Ihr Buch, über das die österreichische Literaturkritikerin Sigrid Löffler, die auch im Film zu Wort kommt, in der ZEIT so treffend schrieb, "Über Auschwitz ist immer noch nicht alles gesagt, wenn man es so sagen kann wie Ruth Klüger – lakonisch, ohne Pathos, mit unbedingter Aufrichtigkeit, Gefühlsgenauigkeit und Schonungslosigkeit, auch gegen sich selbst", wurde auch beim Publikum ein Erfolg und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Noch immer wird die Autorin damit zu Lesungen eingeladen. Gibt es einen Unterschied zwischen den Reaktionen der amerikanischen und der deutschen ZuhörerInnen? Ja. "In Deutschland hab ich immer das Gefühl, die Zuhörer meinen, dass ich ihnen eine Last aufbürden will, dass ich ihnen eine Schuld zuschreiben will, und sie sind angestrengter in dem Sinne."

Neben Deutschland, Österreich und Kalifornien, ist auch Israel ein Schauplatz des Films. "Israel ist irgendwie ein Bestandteil meines inneren Mobiliars, denn dort wäre ich zuhause gewesen. Auch wenn ich Hebräisch mit deutschem Akzent gesprochen hätte, wäre es noch immer meine Sprache gewesen. Das ist die Sprache der Juden. Das ist meine Sprache."

Vom sonnigen Jerusalem führt der Film zurück ins kalte Wien. Es ist der Abend der Gala für Ruth Klüger, der Höhepunkt der Aktion "Eine STADT. Ein BUCH". Die Geehrte betritt den Saal, der mit Tischen und geladenen Gala-Diner-Gästen gefüllt ist. Ein Tisch beginnt spontan zu klatschen, der Beifall breitet sich weiter aus, bis schließlich alle applaudieren. "Es freut mich und belebt mich, aber irgendwie ist es mir unverständlich. Es deckt sich nicht mit dem, was ich hier erlebt habe, und wird sich auch nie decken. (...) Es ist nicht so, als ob das nun ein Schlafmittel wäre, oder eine Versöhnung bewirkt. Das ist unmöglich."

AVIVA-Tipp: "Das Weiterleben der Ruth Klüger" ist ein Film, der Gedanken zeigt. Und Ruth Klüger betritt dabei häufig neue Pfade. Entgegen der Medienöffentlichkeit, die die TäterInnen häufig spannender findet als die Opfer, entwickelt sie eine ganz andere Perspektive: "Der eigentliche Kontrast, der mich interessiert und beschäftigt, ist nicht der zwischen Opfer und Täter, sondern zwischen Opfer-Sein und Frei-Sein." Die Dokumentation lädt ein, mit Ruth Klüger die Perspektive zu wechseln.

Zur Regisseurin: Renata Schmidtkunz, wurde 1964 geboren und studierte Evangelische Theologie. Seit 1990 arbeitet sie als Regisseurin, Redakteurin und Moderatorin beim ORF, Fernsehen und Hörfunk. Von 1994 bis 1998 verfasste sie regelmäßig Kolumnen und Artikel für "Der Standard" und war außerdem von 1994 bis 1996 Lehrbeauftragte für Systematische Theologie an der Uni Wien. Zu ihren Filmen zählen u.a. "Der Pfad auf dem ich wandle – Eine israelische Biographie" (1998), "Jerusalem – Du heilige Stadt" (2001), "Der Löwe von Jerusalem – Teddy Kollek" (2006), "Wider die Vernunft – Der Schriftsteller Amos Oz" (2007) und "Tel Aviv – Leben zwischen Himmel und Hölle" (2009). (Informationen des Verleihs)

Das Weiterleben der Ruth Klüger
Österreich, Deutschland 2011
Buch und Regie: Renata Schmidtkunz
Mit Ruth Klüger, Percy Angress, Dan Angress, Laurie Angress, Gail Hart, Herbert Lehnert, Sigrid Löffler, Thedel von Wallmoden, Eva Geber
Kamera: Avner Shahaf, Heribert Senegacnik, Oliver Indra
Schnitt: Gernot Grassl, Tanja Lesowsky
Ton: Robert Lachowitz, Hans Schranz
Musik: Norbert Rusz, Gerhard Guebel
Produktionsleitung: Juliane Beer
Produzent: Johannes Rosenberger
Länge: 82 Minuten
Verleih: KAIROS Filmverleih
Deutscher Kinostart: 9. Mai 2013, Kino fsk, Segitzdamm 2 in Berlin-Kreuzberg
www.kairosfilm.de
Trailer

Weitere Informationen:

Ruth Klüger: "Wien schreit nach Antisemitismus", Interview mit dem SPIEGEL (2006)

jwa.org

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Beitrag vom 26.04.2013

Sabine Reichelt