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Beitrag vom 27.04.2020
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert. Begleitband und Ausstellung - während der Corona-Pandemie als online-Bildergalerie und mit Hörcollagen, entstanden in Kooperation mit rbbKultur. Das Deutsche Historische Museum öffnet Pei-Bau ab 11. Mai 2020
Sophie Zue
Es ist schon bemerkenswert, dass einer Philosophin eine große Einzelausstellung im Deutschen Historischen Museum gewidmet wird. Dabei steht nicht einmal ein Jahrestag an. Doch Hannah Arendt ist Kult. Und so ungewöhnlich der Ansatz des Museums im ersten Moment klingen mag – im Falle der Ausstellung "Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert" scheint er aufzugehen.
AVIVA-Beitrag vom 27.04.2020Die Ausstellung rückt Hannah Arendt als kritische Intellektuelle in den Fokus, in deren Leben und Werk sich die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts beispielhaft spiegelt, und die das öffentliche Leben der Bundesrepublik von Beginn an sehr kritisch begleitet hat. Insbesondere Arendts oft streitbare Urteile, die immer wieder Anlass für heftige öffentliche Debatten lieferten, bilden einen Fokus der Ausstellungsmacher*innen. Durch diese Perspektive, die die Aufmerksamkeit weniger auf das philosophische Werk denn auf die öffentliche Person Hannah Arendt legt, öffnet sich die Ausstellung auch für ein breiteres Publikum jenseits akademischer Kreise. Sie scheint Arendt nahbar machen zu wollen – nicht zuletzt durch Interviews mit Freund*innen und Familienangehörigen der Philosophin sowie durch die Ausstellung persönlicher Gegenstände, darunter ein Zigarettenetui der leidenschaftlichen Raucherin, ihre Aktentasche oder auch Schmuckstücke.
Da die für dieses Frühjahr geplante
Ausstellung aufgrund der Corona-Pandemie bis dato nicht eröffnet werden konnte, das Museum "bis auf Weiteres geschlossen" ist, gewährt es
online erste Einblicke: Eine Bildergalerie führt Raum für Raum durch die Ausstellung, gibt dabei allerdings mehr eine Idee vom Umfang des Gezeigten, als dass es wirklich zur Auseinandersetzung anregen kann.
Fünf der Hörcollagen, die in Kooperation mit rbbKultur entstanden und elementarer Bestandteil der Ausstellung sind, geben einen ersten Eindruck von Arendts (oft streitbaren) Urteilen und den dadurch provozierten öffentlichen Kontroversen. Video-Interviews mit Daniel Cohn-Bendit (mit dessen Eltern Arendt seit dem Pariser Exil befreundet war) sowie mit ihrer Großnichte, der Judaistin Edna Brocke, schildern Begegnungen mit Hannah Arendt.
Fotografien persönlicher Objekte Arendts – Schenkungen Edna Brockes an das Museum – machen die Philosophin als Person noch greifbarer.
Ein intensiveres
Eintauchen in das Leben und Denken Hannah Arendts ermöglicht der bebilderte Begleitband, der unter dem Titel "Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert" pünktlich zur geplanten Ausstellungseröffnung im Piper Verlag erschienen ist.
24 Autor*innen aus diversen wissenschaftlichen Disziplinen und der Kunst beleuchten verschiedene Aspekte von Arendts vielfältigem Schaffen. Die Beiträge kreisen um Arendts Selbstverständnis als Jüdin und ihr Verhältnis zum Zionismus, um ihre Auseinandersetzung mit totaler Herrschaft, ihre Begegnungen mit Nachkriegsdeutschland, Eichmann und die Aufarbeitung des Nationalsozialismus sowie ihre Beziehung zu den USA, zu Protestbewegungen, aber auch die Bedeutung von Mehrsprachigkeit oder Freundschaft für ihr Leben und Werk. Damit weiten sie den Blick auf Arendt, der in der medialen Wahrnehmung hierzulande noch immer sehr auf den Eichmann-Prozess und die durch Arendts Berichterstattung ausgelöste Kontroverse fokussiert ist.
Auch wenn einzelne Texte etwas trocken oder voraussetzungsreich geraten sind – der Großteil ist sehr lebendig geschrieben und mehr als lesenswert. Ein paar der Texte seien hier herausgehoben:
Liliane Weissberg zeichnet eindrucksvoll die facettenreiche Geschichte von Arendts Auseinandersetzung mit Rahel Varnhagen und ihrem gleichnamigen Manuskript nach, das in Weissbergs Darstellung den Startpunkt für Arendts politische Theorie bildete. In diesem Kontext wird auch erstmals das langwierige
Wiedergutmachungsverfahren für Arendts unterbrochene Universitätslaufbahn thematisiert, für das die Philosophin bis vor das Bundesverfassungsgericht zog, dort 1971 gewann und einen Präzedenzfall in der Bundesrepublik schuf. Diese Episode, die selbst vielen Arendt-Fans unbekannt sein dürfte, wird in mehreren Beiträgen aufgegriffen, erzählt sie doch nicht nur einiges über Hannah Arendts Persönlichkeit, sondern auch viel über das damalige Klima in Deutschland.
So spannend die zeitgeschichtlichen Perspektiven – am interessantesten wird es immer da, wo die geschilderten Erfahrungen und theoretischen Überlegungen Arendts an aktuelle Debatten andockbar sind. Thomas Meyer schildert etwa die Entstehungsgeschichte von Arendts gerade in den letzten Jahren weltweit diskutierter Formulierung vom "Recht, Rechte zu haben" – "einem der wenigen politischen Programme einer Philosophin (…), das im täglichen Kampf um Menschenrechte tatsächlich wirksam geworden ist." Chana Schütz beleuchtet Hannah Arendts Engagement als Geschäftsführerin der
Jewish Cultural Reconstruction Inc. auf der Suche nach geraubtem jüdischem Eigentum im Nachkriegsdeutschland der Jahre 1949 bis 1952 – und zeigt, wie Arendt auch hier ihrer Zeit weit voraus war. Norbert Frei wiederum nimmt Arendts Haltung zu den Student*innenprotesten von 1968 ins Visier, während Astrid Deuber-Mankowsky sich Arendts distanzierter Beziehung zum Feminismus widmet wie auch den Möglichkeiten, in der zeitgenössischen feministischen Theorie an Arendt anzuknüpfen. Neben diesen Texten nehmen besonders die Bildstrecken ein, die den Band durchziehen – allen voran die Fotografien, die Arendt selbst von ihren Weggefährt*innen und Freund*innen gemacht hat.
AVIVA-Tipp: Während die Wahrnehmung Hannah Arendts in der breiten Öffentlichkeit noch immer stark durch die Eichmann-Kontroverse geprägt ist, eröffnet "Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert" einen sehr viel weiteren und facettenreicheren Blick auf die Philosophin. Der Band wirft vielfältige und spannende Schlaglichter auf ihr Leben und Denken und reizt auch durch das oft unbekannte Bild- und Fotomaterial. Es wäre den Herausgeber*innen wirklich sehr zu wünschen, dass sie auch bald ihre Schau im Deutschen Historischen Museum der Öffentlichkeit zugänglich machen können.
Kurzbiografie Hannah Arendt:Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Heidegger, Bultmann und Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. Als Jüdin von den Nazis verfolgt, verließ sie Deutschland 1933 über Tschechien, Italien und die Schweiz zunächst nach Paris, 1941 nach New York. Von den Nazis ausgebürgert, war sie 1937 staatenlos, bis sie 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerinnenschaft erhielt. Von 1946 bis 1948 war sie als Lektorin, danach als freie Schriftstellerin tätig. Ab 1963 war sie Professorin für Politische Theorie in Chicago und lehrte ab 1967 an der New School for Social Research in New York, wo sie am 4. Dezember 1975 starb. Ihre wichtigsten Werke sind: "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", "Menschen in finsteren Zeiten", "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen.", "Vita Activa" und "Rahel Varnhagen".
(Quelle: Verlagsinformationen)
Zu den Herausgeber*innen:
Dr. Monika Boll ist Philosophin und Kuratorin. Sie kuratierte Ausstellungen zur Frankfurter Schule, Marcel Reich-Ranicki und Fritz Bauer und ist Kuratorin der Ausstellung "Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert" im Deutschen Historischen Museum. (Quelle: Verlagsinformationen)
www.piper.deDorlis Blume ist Fachbereichsleiterin Sonderausstellungen und Projekte am Deutschen Historischen Museum, Berlin. (Quelle: Verlagsinformationen)
www.piper.deRaphael Gross ist Präsident Deutsches Historisches Museum, Berlin. (Quelle: Verlagsinformationen)
www.piper.deDorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hg.)
Hannah Arendt und das 20. JahrhundertMit Beiträgen von Stefan Auer, Felix Axster, Susanne Baer, Roger Berkowitz, Micha Brumlik, Claudia Christophersen, Astrid Deuber-Mankowsky, Wolfram Eilenberger, Norbert Frei, Antonia Grunenberg, Barbara Hahn, Marie Luise Knott, Jerome Kohn, Marcus Llanque, Ursula Ludz, Thomas Meyer, Susan Neiman, Ingeborg Nordmann, Anna Pollmann, Milo Rau, Werner Renz, Antje Schrupp, Chana Schütz, Liliane Weissberg.
Piper Verlag, erschienen am 16.03.2020
288 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-07035-5
€ 22,00 [D], € 22,70 [A]
Mehr Infos zum Buch: www.piper.deMehr Infos zur Ausstellung im Deutschen Historischen Museum: www.dhm.deDie Hörcollagen sind online unter:
www.rbb-online.deMehr zu Hannah Arendt:Hannah Arendts Beiträge im Archiv des "New Yorker" unter:
www.newyorker.comInterviews aus den 1960er Jahren:
www.youtube.comWeiterlesen auf AVIVA-Berlin:Maike Weißpflug – Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken. Hannah Arendt – Freundschaft in finsteren Zeiten. Gedanken zu Lessing. Herausgegeben und eingeleitet von Matthias BormuthZwei Neuerscheinungen nehmen Hannah Arendt (1906-1975) als politische Denkerin und Intellektuelle in den Blick und beleuchten dabei weniger einzelne Konzepte und Begriffe der Philosophin als ihren spezifischen Denkstil und ihre Haltung gegenüber der Welt. Beide porträtieren Arendt dabei als Intellektuelle, die sich leidenschaftlich für Pluralismus und freien Meinungsaustausch einsetzt und gerade im kontinuierlichen offenen Gespräch über die gemeinsam geteilte Welt die Grundlage für Zusammenhalt in demokratischen Gesellschaften sieht. (2020)
Simone Frieling - Rebellinnen. Hannah Arendt, Rosa Luxemburg und Simone WeilDrei Denkerinnen porträtiert die Biografin, Malerin und Autorin Simone Frieling in ihrem neuen Buch. Viele Gemeinsamkeiten einten diese drei Persönlichkeiten, die sich nie begegneten, gleichwohl aber voneinander wussten und aufeinander Bezug nahmen. (2019)
Hannah Arendt: Wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen. Briefwechsel mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff
Die beiden langjährigen Arendt-Forscherinnen Ingeborg Nordmann und Ursula Ludz haben einen weiteren Band mit Briefen von und an Hannah Arendt herausgegeben. Diesmal geht es um fünf Freundinnen, denen Arendt auf unterschiedliche Art nahe stand: Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff (2018)
Katrin Meyer - Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah ArendtGewalt ist das Gegenteil von Macht – mit dieser Festlegung hat die jüdische Philosophin Hannah Arendt die sozialphilosophische und politische Debatte entscheidend verändert. Die Autorin, Lehrbeauftragte für Philosophie und Gender Studies an verschiedenen Schweizer Universitäten, analysiert Arendts Machttheorie und stellt deren Bedeutung in der Gegenwart vor. (2017)
Hannah Arendt - Ich selbst, auch ich tanze. Die GedichteDass Hannah Arendt eine große Literaturliebhaberin war, zeigt sich schon an ihren vielen Freundschaften zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Sei es die innige und bis an ihr Lebensende währende Freundschaft mit Mary McCarthy, die herzlichen Begegnungen mit Uwe Johnson, der sie incognito in seine "Jahrestage" einschmuggelte, oder mit dem österreichischen Autor Hermann Broch. (2016)
Sonderheft des Philosophie Magazins im Juni 2016. Hannah Arendt. Die Freiheit des Denkens146 Seiten widmen sich der jüdischen Journalistin und Professorin der New School for Social Research, ihrer Biographie sowie ihrem theoretischen Werk. Dabei stehen Flucht, Judentum und Menschenrechte im Fokus. (2016)
Hannah Arendt - Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an die Freunde. Hrsg. von Ingeborg NordmannFreundschaften waren Hannah Arendt Zeit ihres Lebens wichtig. Sie ermöglichten das Heimisch-Sein in der Emigration und das Willkommen-Sein in Deutschland. Dieser Briefband zeugt davon. 1945 beschreibt Hannah Arendt in einem Brief sehr eindringlich, wie wichtig Freundschaften in der Emigration sind. (2014)
Hannah Arendt. Ab 10.10.2013 auf DVD und Blu-RayUnter der Regie von Margarethe von Trotta und mit exzellenten DarstellerInnen wie Barbara Sukowa und Axel Milberg in den Hauptrollen entstand das filmische Portrait der wegen ihrer These der "Banalität des Bösen" umstrittenen Denkerin Arendt. (2013)
Barbara Holland-Cunz - Gefährdete Freiheit. Über Hannah Arendt und Simone de BeauvoirDie beiden Philosophinnen in einem Atemzug zu nennen, irritiert zunächst, weiß mensch doch von ihrem eher distanzierten Verhältnis zueinander. Dennoch begibt sich die Autorin auf die Suche nach verbindenden Elementen dieser (Nicht-)Beziehung und findet mehr als nur zwei Abbildungen der beiden Denkerinnen, die über Äußerlichkeiten eine Ähnlichkeit konstruieren wollen, nämlich deren Weltbezug. (2012)
Hannah Arendt und Gershom Scholem - Der BriefwechselSie hätten kaum unterschiedlicher sein können, die Heidegger-Schülerin Hannah Arendt und der Kabbala-Gelehrte Gershom Scholem. Und doch verband sie eine Freundschaft über mehr als zwanzig Jahre. (2010)
Hannah Arendt - Das private Adressbuch 1951-1975Den Reiz privater Adressbücher hat Christine Fischer-Defoy bereits mit Heinrich Manns, Marlene Dietrichs, Paul Hindemiths und Walther Benjamins Verzeichnissen bewiesen. Nun folgt Hannah Arendts. (2007)
Hannah Arendt - Leidenschaften, Menschen und BücherAusgehend vom "Denktagebuch" (1950 - 1975) erschließt Prof. Barbara Hahn die Gedankenwelt einer großen Philosophin. (2006)
Hannah Arendt - Von Wahrheit und Politik. HörbuchDie politische Denkerin Hannah Arendt führt uns in ihr Gedankengebäude ein. Charmant und mit rauchiger Stimme erklärt sie "Freiheit", "Politik" und vieles mehr. Eine Einladung zum Selberdenken. (2006)
Hannah Arendt - Die verborgene Tradition. EssaysEine faszinierende philosophische Forschungsreise, die zum Nachdenken auffordert. (2002)