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Beitrag vom 14.10.2014
Ruth Klüger - Zerreißproben. Kommentierte Gedichte. Das 2013 bei Zsolnay als Hardcover erschienene Buch ab September 2016 auch als Taschenbuch bei dtv
Sabine Reichelt
Sie ringt mit und um Sprache, von der sie permanent umringt wird: Die Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin kommentiert und interpretiert ihre eigenen Verse über Gespenster, die sie heimsuchen.
Gedichte waren für Ruth Klüger schon immer Überlebensmittel – und das nicht in einem metaphorischen, sondern im wörtlichen Sinn. Als Mädchen halfen ihr "Die Kraniche des Ibykus", die stundenlangen, quälenden Appelle in Auschwitz durchzustehen, nutzte sie Verse – wie sie in ihrem autobiographischen Werk "weiter leben" schreibt – als Zeitvertreib: "Ist die Zeit schlimm, dann kann man nichts Besseres mit ihr tun, als sie zu vertreiben, und jedes Gedicht wird zum Zauberspruch."
Der nun erschienene Band vereint ausgewählte Lyrik Klügers, die zwischen 1944 und heute entstanden ist, darunter auch "Zwei Lagergedichte", die die damals Dreizehnjährige im KZ verfasste, um "die ungeheure Unordnung, die hier herrschte, das heißt, die Aufhebung der gesellschaftlichen Regeln im Vernichtungslager innerlich zu bekämpfen." In der größten Todesangst klammerte sich die junge Dichterin an vierhebige Trochäen, um den Verstand nicht zu verlieren:
"...
Hinter den Baracken brennt
Feuer, Feuer Tag und Nacht.
Jeder Jude es hier kennt,
jeder weiß, für wen es brennt,
und kein Aug´, das uns bewacht?
…"
Ruth Klüger kommentiert die eigenen Gedichte, fügt sie in ihren biographischen Entstehungshintergrund ein, erläutert Reimformen, Rhythmen, Metaphern und literarische Anspielungen. Auch die Qualität der eigenen Verse beurteilt sie ohne Eitelkeit. So schreibt sie zum oben zitierten "Auschwitz": "Das Gedicht ist so banal wie möglich, in seiner Glätte, seiner Wortwahl, den braven Reimen und in der Ausgewogenheit der Strophen. Und außerdem ist es zu lang."
Was schreibe ich also als Rezensentin, wenn die Autorin ihre eigenen Werke bereits selbst so klug und selbstkritisch analysiert und besprochen hat? Und warum überhaupt fügt sie den eigenen Ver-Dichtungen Kommentare an? Treibt sie die Angst vor Missverständnis, die didaktische Begeisterung der Professorin oder die Freude an der Vielschichtigkeit? Klüger geht es um die Verbindung von Herz und Kopf in der Gedichtrezeption: "Unser Empfinden mag noch so emotional auf das Gedicht reagieren, immer noch muss es dem Verstand und dem kritischen Denken gegenüber offen bleiben."
Immer wieder verwebt Ruth Klüger jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ihrer eigenen, schreibt von den Gespenstern der Vergangenheit, unter ihnen Bruder und Vater, die der Ermordung durch die Nationalsozialisten nicht entgingen und bei der Überlebenden nun Schuldgefühle auslösen, sie heimsuchen und immer noch umtreiben:
"Netze der Toten
Morgens beim Augenöffnen
vergittert ihr Netz
mir das Licht."
…
Ãœberall lauern und spuken Erinnerungen: in den klaustrophobischen, oft atemraubenden (Alb-)Traumgedichten
"Grünsurrend unter der Stiege
will das Wort wecken.
Als eine müde Fliege
kriecht´s um die Ecke."
ebenso wie in den Gedichten über Wien – Stadt der Kindheit der Autorin, aber auch Ort rassistischer Ablehnung, Verfolgung und allgegenwärtiger Gefahr:
"… blinde
Stadt, die ein Kind
sandigen Auges verbannte,
Menschenleere ..."
Ähnlich ambivalent ist auch Klügers Verhältnis zur deutschen Sprache. Als Sprache der Täter_innen empfindet sie sie als Last, schätzt aber auch den selbstverständlichen Reichtum des Ausdrucks, den ihr nur die Muttersprache bescheren kann. Einen Teil der Gedichte fasst sie bewusst als Sprachspiele und kleine Stilexperimente, in denen die Literaturwissenschaftlerin mit Lust all jene Formen und Verweise aufzeigt, die die Dichterin zuvor sorgsam ausgewählt und gekonnt gebildet hat. Die beiden folgenden Terzette beschließen das Sonett "Deutsche Sprache":
"In diesen Lauten löst sich nun die schmale
die Kinderstimme, die klug-schlau das Leiden
in Verse stülpte, wie in eine Schale
und zeigt mit mühelos zum zweiten Male
in scharfen, unbiegsamen Zackigkeiten
den Trost der klaren offenen Vokale."
Zur Autorin: Ruth Klüger, geboren 1931 in Wien, wurde in die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt verschleppt. 1947 emigrierte sie in die USA und lehrte Germanistik an der University of Virginia, in Princeton sowie an der University of California in Irvine. Heute lebt sie in Irvine/Kalifornien und Göttingen. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck, den Roswitha-Preis der Stadt Gandersheim und den Lessing-Preis des Freistaats Sachsen. Zu ihren Veröffentlichungen gehören u.a. "Katastrophen. Über deutsche Literatur" (1994), "Frauen lesen anders" (1996), "Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik" (2007) und "Was Frauen schreiben" (2010). Der erste Teil ihrer Autobiographie, "weiter leben. Eine Jugend" (1992), wurde in zehn Sprachen übersetzt; 2008 erschien Teil zwei, "unterwegs verloren. Erinnerungen". (Verlagsinformation)
Ruth Klüger im Jewish Women´s Archive: jwa.org
AVIVA-Tipp: Wenn die Wörter eines Gedichtes eine verschlossene Tür bilden, hinter der sich der Textsinn verbirgt, dann müssen wir hier den Schlüssel nicht lange suchen: Ruth Klüger hat ihn auf ein Brett neben der Klinke gelegt. So erlangen wir Zugang zu klassisch und modern gestalteten Räumen, wo Strahler zwar einzelne Teile beleuchten, in denen die Leserin beim Anheben eines Sofakissens oder dem Blick hinter einen Vorhang aber durchaus noch eigene Entdeckungen machen kann, umringt von Sprache.
Ruth Klüger
Zerreißproben. Kommentierte Gedichte
dtv, erschienen 23. September 2016
ISBN 978-3-423-14519-0
Preis: 9,90 €
www.dtv.de
Ruth Klüger
Zerreißproben. Kommentierte Gedichte
Zsolnay, erschienen am 26.08.2013
Fester Einband, 120 Seiten
Preis: 14,90 Euro
ISBN 978-3-552-05641-1
www.hanser-literaturverlage.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Ruth Klüger - Was Frauen schreiben
Ruth Klüger - Katastrophen
Ruth Klüger - unterwegs verloren
Interview mit Ruth Klüger (2009)
Das Weiterleben der Ruth Klüger. Ein Film von Renata Schmidtkunz. Kinostart 9. Mai 2013
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