Hannah Arendt - Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an die Freunde. Hrsg. von Ingeborg Nordmann - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Biographien



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 09.05.2014


Hannah Arendt - Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an die Freunde. Hrsg. von Ingeborg Nordmann
Bärbel Gerdes

Freundschaften waren Hannah Arendt Zeit ihres Lebens wichtig. Sie ermöglichten das Heimisch-Sein in der Emigration und das Willkommen-Sein in Deutschland. Dieser Briefband zeugt davon. 1945 ...




...beschreibt Hannah Arendt in einem Brief sehr eindringlich, wie wichtig Freundschaften in der Emigration sind.

Kurt Blumenfeld, dem Rechtswissenschaftler und Zionisten, schreibt sie, dass "Menschen, die in keinem Besitz verwurzelt sind und darum ihr Milieu sozusagen immer mit sich herumtragen … von keiner Bibliothek und von keinem Mobiliar geschützt" seien. Freundschaften und menschliche Beziehungen seien da noch wichtiger. Und da sie das einzige Milieu darstellten, mit dem sie sich privat zufrieden geben könne, "können sie sich trotz aller Treue und Loyalität nur erhalten im lebendigen Kontakt."

Hannah Arendt war eine passionierte Briefschreiberin. Zahlreiche umfangreiche Korrespondenzen mit unterschiedlichen Personen zeugen von dieser Liebe. Die Literaturwissenschaftlerin und Arendt-Forscherin Ingeborg Nordmann hat einen Band vorgelegt, der eine Auswahl von Briefen Hannah Arendts enthält. "Wahrheit gibt es nur zu zweien," schreibt die Philosophin ihrem Ehemann Heinrich Blücher. Die Replik des Gegenübers fehlt hier jedoch.

Die Herausgeberin stellt ihrer Veröffentlichung ein Zitat Hanna Arendts voran, das auf das Buch des Andenkens der Salonnière Rahel Varnhagen verweist. Varnhagen sammelte Briefe, die sie ihren Freundinnen und Freunden schrieb, und mit dem sie so eine Autobiographie erschuf, die sie im ständigen Gespräch und Selbstgespräch zeigt.
Ingeborg Nordmann zeigt auch dadurch: "Schon auf der Ebene der Anschauung wird wahrnehmbar, wie unterschiedlich die Freundschaften sind und dass sie eine eigene Sprache haben."

Und so lesen wir uns chronologisch durch die Briefe und damit auch durch die Zeit, die sie hervorriefen. Tatsächlich entsteht ein faszinierender Einblick in die Person Hannah Arendts. So unterschiedlich ihre Korrespondenzpartnerinnen und -partner, so unterschiedlich Arendts Sprache und Themen.

In ihren Briefen an Heinrich Blücher lernen wir sie als Frau kennen, die sich schnell heimatlos und ungeborgen fühlt und die "nur existieren kann in der Liebe. Und hatte gerade darum solche Angst, dass ich einfach verloren gehen könnte." Ihr Leben lang wird sie unruhig und erschüttert sein, wenn ein Brief Blüchers nicht oder später als erwartet eintrifft.

Die allmähliche Entwicklung von der beeindruckten Studentin zur Philosophin auf Augenhöhe lässt sich wunderbar an den zutiefst freundschaftlichen und auf gegenseitigem Respekt fußenden Briefen an Karl Jaspers erkennen. Hier vermischt sich besonders die private und die politische Sphäre. Mit ihm diskutiert sie ihre Arbeit, von ihm erhält sie Inspiration und Unterstützung, während sie versucht, seine Werke in den USA publik zu machen.

Deutlich wird in dieser Auswahl auch, dass Hannah Arendt eher eine "Männerfreundin" ist. Die Briefe an Männer überwiegen bei weitem die der weiblichen Briefpartnerinnen, auch wenn diese, wie die zur US-amerikanischen Schriftstellerin Mary McCarthy oder der Sekretärin Hilde Fränkel, sehr intensiv und innig sind.

Ihre Kommentare über die Ehefrauen ihrer Briefpartner gibt manches Mal zu denken. So schreibt sie über Gertrud Jaspers: "Während der Hitler-Zeit hat sie sich halt geschämt, dass für sie Ausnahmen gemacht wurden, dass sie das jüdische Schicksal nicht teilte; dadurch ist sie ein bisschen verrückt geworden."

Schwer zu verstehen und schwer zu ertragen ist ihre Hinwendung zu Martin Heidegger nach dem Krieg. In den Briefen über ihn sucht sie seine "öffentliche Beredsamkeit im Geiste des NS-Regimes … und … sein hartnäckiges Schweigen" nach 1945 zu relativieren und seine Verantwortung zu mindern. Diese führt sie auch auf den Einfluss seiner Ehefrau zurück, die "von einer so vernagelten, bösartigen, ressentimentgeladenen Dummheit" sei. Dem gegenüber stehen Heideggers "fundamentale Gutartigkeit", seine "erschütternde Zutraulichkeit" sowie seine "echte Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit". Arendt sei, so schreibt sie ihrem Mann, durchaus bereit, "Heidegger gegenüber so zu tun, als ob ich nie eine Zeile geschrieben hätte und nie eine schreiben würde."

Die Veröffentlichung ihres Buches zum Eichmann-Prozess, ihre Theorie von der Banalität des Bösen und der Mitverantwortung der Judenräte an das Morden der Juden nimmt einen großen Stellenwert in den Briefen der 60ger Jahre ein. Arendt leidet sehr unter der Kritik und sieht sich verkannt. Ihre Freundschaft zu dem Religionshistoriker Gershom Scholem verliert sie in der Auseinandersetzung.

Durch die Briefe, die auch eine Art Autobiographie darstellen, wird deutlich, wie häufig Arendt auf Reisen war, wie fleißig sie war und wie sehr sie sich engagierte. Sie verlor aber auch nie den Blick für das, was vor ihr lag: ihre Landschafts-, Länder- und Stadtbeschreibungen sind lebendig und voller Freude am Dasein; sie genießt Gespräche und Treffen, vor allem aber die Anwesenheit – und sei es auch nur in schriftlicher Form – ihrer Freunde und Freundinnen. "Geschmack entscheidet nicht nur die Frage, welche Dinge wir mögen oder wie die Welt aussehen und erklingen soll, sondern auch, wer in der Welt zusammengehört", schreibt Arendt. "Wir erkennen einander an dem, was gefällt und nicht gefällt.


AVIVA-Tipp: Das Mosaik der Briefe Hannah Arendts zeugen vom Facettenreichtum dieser Philosophin. Sie sind ein großes Lesevergnügen für alle, die Arendt in ihren Freundschaften näher kennen lernen möchten.


Zur Autorin: Hannah Arendt, 1906 in Hannover geboren, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Heidegger und Jaspers. 1933 emigrierte sie nach Paris, 1941 nach New York. Sie arbeitete als freie Autorin ab 1963 Professorin für Politische Theorie in Chicago, ab 1967 an der New School for Social Research in New York. Arendt starb 1975 in New York.

Zur Herausgeberin: Ingeborg Nordmann ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und seit vielen Jahren in der Hannah-Arendt-Forschung tätig.

Hannah Arendt: Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an die Freunde
Herausgegeben von Ingeborg Nordmann
Piper-Verlag, erschienen 2013
464 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-492-05542-0
29,99 Euro

Mehr Infos zu Hannah Arendt:

Hannah Arendts Beiträge im Archiv des "New Yorker" unter:

www.newyorker.com

archives.newyorker.com

Interviews aus den 1960er Jahren:
www.youtube.com

www.youtube.com

www.youtube.com


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Beitrag vom 09.05.2014

Bärbel Gerdes