Ina Hartwig - Wer war Ingeborg Bachmann. Eine Biographie in Bruchstücken - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Biographien



AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 23.06.2018


Ina Hartwig - Wer war Ingeborg Bachmann. Eine Biographie in Bruchstücken
Silvy Pommerenke

Informativ, kurzweilig und erhellend! So liest sich die »Biographie in Bruchstücken« von Ina Hartwig über Ingeborg Bachmann. Und streckenweise schildert sie das Leben der österreichischen Autorin spannend wie einen Kriminalroman – vor allem, was die ominösen Umstände des Todes von Ingeborg Bachmann betreffen – die am 25. Juni 2018 ihren 92. Geburtstag gefeiert hätte.




Dabei gleitet Hartwig aber nie in Yellow-Press-Niveau ab, sondern bleibt bei allem möglichst sachlich und literaturwissenschaftlich. Diese bruchstückhafte Biographie ist nämlich mehr als nur ein voyeuristischer Blick auf Bachmann, denn neben bislang unbekannten Details wird die Leserin mit einigen - bisweilen unbekannten - Fotografien belohnt, und geht mit Ina Hartwig dem Leben, der Literatur und der Person Ingeborg Bachmanns auf den Grund. Nicht chronologisch, sondern thematisch setzt sich Hartwig mit der österreichischen Schriftstellerin und Denkerin auseinander.

So widmet sich Hartwig in neun Kapiteln (abgesehen von dem Epilog), den unterschiedlichen Aspekten des Lebens von Ingeborg Bachmann: Beginnend mit dem Tod von Bachmann ("Krieg am Sterbebett"), ihrem Verhältnis zu Fotografen und hier insbesondere dem zu Herbert List ("Bildermaschine"), ihre zerstörerische Liebesbeziehung zu Paul Celan, die trotz alledem auf beiden Seiten für kreative Schübe sorgte ("Der Mann mit dem Mohn"), Bachmanns Arbeit für den US-amerikanischen Besatzungssender Rot-Weiß-Rot, bei dem sie sich ungewöhnlicherweise als "ein unbeschwertes Radiotalent und als volkstümliche Entertainerin" präsentierte ("Körperwerk der Politik"). Und an dieser Stelle betont Ina Hartwig die Mitarbeit Bachmanns an der österreichischen Seifenoper "Radiofamilie". Eine eigentlich unter Bachmanns Niveau liegende Erfolgsserie der fünfziger Jahre, bei der die Mitwirkung von Bachmann bis vor ein paar Jahren mehr oder weniger unbekannt war. In dieses längste Kapitel des Buches fällt auch die Einladung in die Gruppe 47 der Lyrikerin, und der damit einhergehende literarische Aufstieg Bachmanns, ihre intellektuelle Auseinandersetzung mit der französischen Philosophin Simone Weil und mündet zuletzt in ihrem Konstrukt von "Körperwerk". Ein Begriff, den Bachmann in einem ihrer Textfragmente kreierte, und mit dem sie ihr Politikverständnis beschreiben wollte. Schlussendlich geht Hartwig auch noch auf die Freundschaft zwischen Ingeborg Bachmann und Henry Kissinger ein, der sie 1955 zu der Harvard Summer School einlud, und sie damit zum "intellektuellen Jetset" adelte.

Im Kapitel "Ein Kritiker" lässt sie Marcel Reich-Ranicki - in gewohnter Weise - Kritik an Bachmann üben und in "Berlin, Germany" schildert Hartwig Ingeborg Bachmanns Zeit von 1963 bis 1965 in Berlin, wo sie als Stipendiatin der Ford Foundation residierte. Eine Zeit voller Krisen für Bachmann, die sich aber produktiv auf ihr Schreiben auswirkte (unter anderem entstanden hier umfangreiche Entwürfe zum "Todesarten"-Projekt), und für eine "künstlerische Neuerfindung" sorgte. Zeitgleich residierte auch der jüdische Schriftsteller Witold Gombrowicz im Berliner Hansaviertel, und was beide miteinander verband war, dass sie die unendlich leeren Straßen Berlins als verstörend empfanden. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Hartwigs Diskurs über das Programm "Artists in Residence" der Ford Foundation und die weitere Kulturpolitik, die von der Foundation betrieben wurde.

Das folgende Kapitel "Orgie und Heilung" behandelt die ungewöhnliche - und vor allem spontan entstandene - Liaison zu dem jungen Kulturjournalisten Adolf Opel, mit dem sie "binnen weniger Tage" auf abenteuerliche Reisen nach Prag, Griechenland und Ägypten geht. Letztendlich wird es die Reise nach Ägypten sein, wo der depressiven Bachmann "das Lachen zurückgekommen ist", und sie aus ihrer Lebens- und Schaffenskrise herausgeholt wurde. Hartwig bezeichnet das Verhältnis der beiden als das "Bündnis einer depressiv gewordenen Diva mit einem weit jüngeren lebenslustigen Abenteurer". Unbedingt lesenswert in diesem Zusammenhang ist auch das Buch von Opel "Wo mir das Lachen zurückgekommen ist … - Auf Reisen mit Ingeborg Bachmann", was auf den ersten Blick zwar etwas effekthascherisch rüberkommen mag, aber auf den zweiten Blick viel über die Privatperson Bachmann preisgibt.

Im Kapitel "Guter Vater, böser Vater" geht es um die Vaterfigur aus dem Roman "Malina", die Hartwig als "die Verkörperung des Bösen schlechthin" bezeichnet. Diese Figur ist eine Kombination aus "Inzest und Naziverbrechen", aber die Lesart, Bachmanns Vater als Motivgeber zu sehen, bestreitet Hartwig. Nichts desto trotz nutzt sie die Gelegenheit, um über seine Nazivergangenheit zu schreiben.

Den Abschluss des Buches bilden die "Gespräche mit Zeitzeugen", die Ina Hartwig in der Zeit zwischen Mai 2013 und Juni 2016 geführt hat. Unter den GesprächspartnerInnen befinden sich Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Marianne Frisch oder Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. Hartwig betont, dass die Erinnerungen der ZeitzeugInnen nicht als reale Berichte verstanden werden dürften, sondern dass es sich immer um subjektiv gefärbte Erinnerungen handelt, inklusive der jeweiligen Projektionen auf Ingeborg Bachmann. Auch bei diesen Textpassagen gibt sich Hartung objektiv und sachlich. Selbst wenn sie einige Aussagen ihrer GesprächspartnerInnen hinterfragt, so bleibt sie dabei immer dezent und so weit wie möglich neutral. Daneben bettet sie Ingeborg Bachmann in die Zeitgeschichte ein und deutet komplex und kompakt die Schriften Bachmanns mit stellenweise verblüffenden Gedankengängen. Und überhaupt, es ist wirklich ein großes Vergnügen, den klugen und durchdachten Gedankengängen von Ina Hartwig zu folgen!

Was am Ende von dieser "Biographie in Bruchstücken" zurückbleibt, ist die Erkenntnis, dass eine Autorin, ein Mensch - so sehr sie auch im Rampenlicht gestanden und durch Prosa und Lyrik viel Persönliches von sich der Öffentlichkeit preisgegeben hat - immer aus ganz vielen Facetten besteht und auf ewig ein Geheimnis bleiben wird. Was im Falle von Bachmann aber ein ungemein spannendes Geheimnis bleibt!

Wer Ingeborg Bachmann wirklich war, wird auch durch diese Lektüre natürlich nicht beantwortet. Aber dass sie mehr als ihr Schreiben war, das liegt auf der Hand. Und die drei Ausgangsfragen von Hartwig, die sie durch die Arbeit an dieser Biografie beantworten wollte, können natürlich auch nicht in Gänze aufgelöst werden: wie war das Verhältnis zum Vater, wie ist die Umwelt mit Bachmanns Drogen-, Alkohol- und Tablettensucht umgegangen und wie ist Bachmann als intellektuelle und politische Denkerin aufgenommen worden. Aber – und das aber ist in diesem Falle großgeschrieben – das Buch von Hartwig führt direkt zur Literatur und der Person Ingeborg Bachmanns. Ein Weg, der noch lange nicht zu Ende gegangen bzw. gedacht sein wird!

Zu all den neuen oder auch alten – bruchstückhaften – Informationen zu Bachmann, finden sich im Anhang dieser Biographie natürlich noch Anmerkungen zum Text, eine Zeittafel zu Bachmanns Leben und ein umfängliches Namensregister.

AVVA-Tipp: Ina Hartwig hat eine großartige Biographie – in Bruchstücken – über Ingeborg Bachmann geschrieben. Nicht nur, dass sie die Romane und Lyrik Bachmanns mit stellenweise verblüffenden Gedankengängen deutet, sondern Hartwigs Buch schafft es auch, Bachmann der Leserin oder dem Leser persönlich deutlich näher zu bringen, als es die Literatur von Bachmann jemals vermocht hätte. Absolut lesenswert! Wie schade, dass sich Hartwig aus dem schreibenden Metier zurückgezogen hat, weil sie seit Juli 2016 als Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt am Main arbeitet.

Zur Autorin: Ina Hartwig studierte Romanistik und Germanistik in Avignon und Berlin. Neben Lehrtätigkeiten an der FU Berlin, in St. Louis und Göttingen war sie viele Jahre lang verantwortliche Literaturredakteurin bei der "Frankfurter Rundschau" und arbeitete ab 2010 als freie Kritikerin, Autorin und Jurorin. 2011 wurde sie mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik und dem Caroline-Schlegel-Preis der Stadt Jena ausgezeichnet, 2015/16 war sie als Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. Seit 2016 ist Ina Hartwig Kulturdezernentin in Frankfurt am Main. (Quelle: Verlagsinformationen)

Zur Autorin: Ingeborg Bachmann, am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren. Lyrikerin, Erzählerin, Essayistin. 1952 erste Lesung bei der Gruppe 47. Preise: Bremer Literaturpreis, Hörspielpreis, Georg-Büchner-Preis, Großer Österreichischer Staatspreis, Anton-Wildgans-Preis. Sie lebte nach Aufenthalten in München und Zürich viele Jahre in Rom, wo sie am 17. Oktober 1973 starb. (Quelle: Verlagsinformationen)

Ina Hartwig – Wer war Ingeborg Bachmann? – Eine Biographie in Bruchstücken
Fischer Verlag, erschienen November 2017
Gebunden mit Schutzumschlag, 320 Seiten
ISBN 978-3100023032
Euro 22,00
Mehr zum Buch unter: www.fischerverlage.de

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Da haben fast nur Männer geredet, sehr, sehr selten, daß Frauen die Stimme erhoben." Die Germanistin Wiebke Lundius untersucht in ihrer Dissertation die Rolle der Frauen in der Gruppe 47, darunter so bekannte Autorinnen wie Elisabeth Borchers, Gabriele Wohmann, Irmgard Keun, Ingeborg Bachmann, Ruth Klüger und Gisela Elsner und findet viele festgeschrieben Rollen. Zwar thematisiert sie auch die unreflektierte Haltung, ja, Abneigung gegenüber der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, eine Kontroverse mit dem Antisemitismus in der Gruppe findet jedoch kaum statt. (2018)

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Erstmals wurden Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe aus dem gesperrten Teil des Nachlasses Ingeborg Bachmanns ediert und stellen damit den Beginn der Salzburger Bachmann Edition dar, die insgesamt zwanzig Bände haben wird. (2017)

Ingeborg Gleichauf - Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Eine Liebe zwischen Intimität und Öffentlichkeit
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Eine wunderbare Entdeckung! Die geistreiche Seifenoper, an der sie in jungen Jahren mitwirkte, ist hoch vergnüglich und zeigt eine neue und lebensfrohe Seite der großen deutschsprachigen Lyrikerin. (2011)

Ingeborg Bachmann - Kriegstagebuch
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Herzzeit - Ingeborg Bachmann - Paul Celan – Der Briefwechsel
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Eines der schönsten und meistinterpretierten Gedichte Bachmanns steht als Namensgeber für die Re-Edition ihres lyrischen Werkes aus den vierziger und fünfziger Jahren. (2008)

Ingeborg Bachmann - Malina
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Beitrag vom 23.06.2018

Silvy Pommerenke