Mithu M. Sanyal - Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Sachbuch



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 31.08.2016


Mithu M. Sanyal - Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens
Hai-Hsin Lu

Der Begriff "Vergewaltigung" steht zwischen politischer Deutungshoheit, Geschlechter- und Gewaltdiskursen. Dieses Jahr hat er durch mehrere Vorfälle wieder an medialer Aufmerksamkeit gewonnen. Mithu M. Sanyal bringt in ihrem Werk Transparenz in …




... die Begrifflichkeit, verortet sie kulturhistorisch und bricht mit den Mythen, die die bisherige Narrative prägten.

Ob die Silvesternacht in Köln oder der Prozess um Gina-Lisa Lohfink: Sexuelle Gewalt und Vergewaltigung dominieren im Jahr die Schlagzeilen und spalten gesellschaftliche Diskussionen. Während in dem Fall um die Silvesternacht 2015 "deutsche" Frauen konsequent als Opfer fremder, ausländischer Gewalt gesehen und beschrieben werden, stellen die Medien Gina-Lisa Lohfink als unseriöses, hypersexualisiertes "It-Girl" dar. Demnach begrüßt sie die Veröffentlichung ihrer Vergewaltigungsvideos und betreibt den Prozess gegen ihre Vergewaltiger nur für mehr öffentliche Aufmerksamkeit um ihre Person.

Vergewaltigungsmythen und Machtstrukturen

Mithu Sanyal, Journalistin und Kulturwissenschaftlerin, die schon mit ihrem Buch Werk "Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts" im Jahr 2009 Diskussionen auslöste, stellt am Anfang ihrer Streitschrift eines klar: "Der Vergewaltigungsdiskurs ist eine der letzten Bastionen und Brutzellen für Geschlechterzuschreibungen, die wir ansonsten kaum wagen würden zu denken, geschweige denn auszusprechen" In ihrem neuen Werk bringt Sanyal Deutlichkeit in den seit der Antike kontrovers diskutierten Begriff der Vergewaltigung. Denn dieser ist nicht nur aktuell in der Berichterstattung zu finden – die Art, wie gesellschaftlich über Vergewaltigung gesprochen wird, ist ein klares Indiz für die Machtstrukturen, die Geschlechterverhältnisse, die noch vorherrschen.

Es ist ein weit verbreiteter Mythos: Die attraktive, junge Frau, die in einem knappen Rock durch dunkle, nächtliche Gassen läuft und von einem fremden, psychopathischen Mann überwältigt wird, der angesichts ihrer Schönheit nicht an sich halten kann. Dieses Bild hat sich unter permanenter medialer Vermittlung tief in unserem kultur-geschichtlichen Kollektivbewusstein eingeprägt – und es ist das gängige Bild einer Vergewaltigung. Sanyal taucht in die Sexualtheorien der letzten zwei Jahrhunderte ein, um die Ausformung unseres heutigen Vergewaltigungsverständnisses für die Leser_innen nachzuvollziehen.

Ein Dualismus der Geschlechter

Unter anderem schreibt sie über das "Dampfkesselmodell" des 18. Und 19. Jahrhunderts, demnach Geschlechtsverkehr für Männer unverzichtbar ist und sich ansonsten die angestaute Frust auf seine Gesundheit auswirkt. Dieses "Modell" ist noch heute wirkmächtig: Die Aufforderungen an Frauen, sich nicht freizügig zu kleiden, teilen die Grundprämisse dieser Vorstellung – Frauen dürfen Männer nicht erregen, sonst würde sich der "Kessel" unweigerlich entladen. Der sich erstmals 2011 formierende "Slutwalk", der seidem global und jährlich in zahlreichen Großstädten protestiert, wehrt sich gegen ebendiese Forderungen.

Der psychoanalytische Masochismusdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts trug maßgeblich zur imaginierten weiblichen Sexualität bei: Die Vagina befand sich demnach in einem stets passiven Zustand und konnte nur durch die Penetration eines Penis erweckt werden. Sanyal schreibt nicht ohne einen gewissen Sarkasmus: "Daraus entstünde das tiefe weibliche Bedürfnis, überwältigt zu werden."Während also der Mann vor "heißer Begierde" kaum an sich halten konnte, war die Frau dazu vepflichtet, Avancen pro Forma abzulehnen, nur um ihrem inneren Wunsch nachzugeben, endlich überwältigt, das heißt, vergewaltigt zu werden. Dieses Konzept weiblicher Sexualität kann im Umgang der Presse mit Gina-Lisa Lohfink beobachtet werden. So wurde sie beispielsweise während ihres Gerichtsprozesses von Männern als "Hure" beschimpft und Medien wie "Die Welt" insinuieren in ihrer Berichterstattung, dass sie ihre Vergewaltigung selbst inszeniert hätte. Von einer "Schmierenkomödie" ist ebenso die Rede wie davon, sie sei ein " ein Opfer – aber kein Vergewaltigungsopfer".

Der ausschließliche Opferstatus entmenschlicht Frauen

Diese Beschreibungen erscheinen den Leser_innen wahrscheinlich absurd – jedoch sind dies die Grundfesten, auf denen das heutige Vergewaltigungsverständnis aufgebaut ist: Männer dominieren, während Frauen dominiert werden. Männer sind qua Biologie geborene Täter, Frauen Opfer. Dementsprechend bedurfte es in Deutschland bis 1997 im bürgerlichen Gesetzbuch einen Penis, um eine Vergewaltigung zu begehen. Hierbei will die Autorin keinesfalls behaupten, dass Männer die eigentlichen Vergewaltigungsopfer seien, sondern aufweisen, dass der Vergewaltigungsdiskurs unserer Vorstellung von immanenten Geschlechterrollen prägt und essentialisierend auf die Kategorien "Mann" und "Frau" wirkt. Inbesondere die Frau, zum Opfertum verdonnert und zugleich für ihre "sexuelle Perversität" verachtet, wird so vollkommen entmenschlicht. Von einer ausgelebten, selbstbestimmten weiblichen Sexualität, von einer Frau als eigenständige Person kann in diesem Kontext nicht annähernd die Rede sein.

Wirksame Konzepte: Vergewaltigung und Schande

Sanyal spannt einen weiten Bogen über die vielen Paradoxien und Widersprüche um das Thema Vergewaltigung. Sie spricht über den Anti-Rape-Aktivismus des Zweite Welle Feminismus, die zwar für Frauenrechte eintrat, jedoch den Täter-Opfer Dualismus weiter stabilisierte. Genauso geht Sanyal auf die Medialisierung sexueller Gewalt in der Medienberichterstattung und in Spielfilmen ein, indem sie Fälle wie "Big Dan’s Rape Case" und die daran angelehnte Hollywoodproduktion "Angeklagt" (1988) analysiert, die eine breite gesellschaftliche Diskussion lostrat und mit Jodie Foster in der Hauptrolle einen Oscar gewann. Paradoxerweise erreichte diese Diskussion eben eines: Anstatt eines Lösungsansatzes potenzierte sich die Angst der Frauen vor männlichen Vergewaltigern und manifestierte sich medial. Der Opfer-Täter Dualismus fand auch hier Bestärkung.

Wie kommt es also, dass sowohl konservative Männerrechtler_innen als auch Feminist_innen sich diesem konstruierten Gegensatz nicht entziehen können? Sanyal reist mit den Leser_innen zurück in die klassische Antike und ins europäische Mittelalter, um zu ergründen, wie es zu der Annahme kam, "dass die Sexualität einer Frau ihre Essenz sei", und eine Vergewaltigung einem Todesurteil ähnelte. Hierbei untersucht sie Begriffe wie "Ehre", "Schande" und "Jungfräulichkeit" und enttarnt diese gründlich. Mit einem Sprung in die Gegenwart greift sie Fälle wie das Verfahren gegen Jörg Kachelmann auf, um genau diese Begriffe darin wiederzufinden. Sanyal zitiert die amerikanische Schriftstellerin Vanessa Veselka folgendermaßen: "Solange wir an dem Konzept von Vergewaltigung als Raub festhalten, kommen wir unweigerlich zurück zu der Überzeugung, dass der Wert einer Frau – ihr wahres Ich – in ihrer sexuellen Reinheit begründet sei. Es ist eine absolute Objektivierung von Frauen."

Rassismus und Sexismus

Nun kommen wir auf die Narrative um die Vorfälle in der Silvesternacht in Köln zu sprechen – und somit auf den ausgeprägten Rassismus, der vom Vergewaltigungsdiskurs nicht zu trennen ist. Ein weiterer Mythos ist hier wirksamer denn je: der schwarze Vergewaltiger, der weiße Frauen an sich reißt. Am 9. Januar 2016 zeigte das Titelblatt des Magazins Focus eine entblößte, blonde Frau, deren Körper mit schwarzen Handabdrücken bedeckt war. Ähnlich veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung eine Abbildung eines dunklen Arms, der zwischen helle Frauenbeine greift. Hier wird wieder deutlich, dass Vergewaltigung und sexuelle Gewalt nur dann breite Thematisierung erfahren, wenn sie von den vermeintlich "anderen" begangen werden, den schwarzen oder "muslimisch aussehenden" Männern. Ebenso wichtig ist die Positionierung der Opfer als weiße, deutsche Frauen, die im Auge der Öffentlichkeit als "unsere Frauen" und somit als "schützenswert" gelten. Die Twitter-Kampagne #ausnahmlos machte schnell auf ebendies aufmerksam: "Die Rape Culture wurde nicht nach Deutschland importiert – sie war schon immer da."

Für eine diversifizierte Narrative

Sanyal betont, dass sie den Leser_innen nicht eine neue Vergewaltigungsdefinition aufzwängen, sondern Platz für eine diversifizierte Narrative schaffen möchte. Sie nutzt gegen Ende ihres Buches ein Zitat von bell hooks: "Wirkliche sexuelle Freiheit kann nur existieren, wenn Individuen nicht mehr länger von einem gesellschaftlichen Sexualitätskonstrukt unterdrückt werden, das auf biologische Definition von Sexualität basiert."
Der Vergewaltigungsdiskurs hält diese gesellschaftlichen Konstrukte ohne Zweifel weiterhin aufrecht, er dämonisiert, essentialisiert und simplifiziert. Im Juli 2016 wurde ein wichtiges Credo der Frauenbewegung, "Nein heißt Nein!", im Rahmen einer Sexualstrafrechtsreform endlich Gesetz. Jedoch braucht es noch viel mehr, um wirkliche Veränderung herbeizuführen. Radikale Transformation kann nur dann beginnen, wenn sich Stimmen gegen das Normative erheben. Mithu Sanyal hat mit ihrem Werk genau dies getan.

AVIVA-Tipp: Ein Buch, das zu jeder Zeit hohe Aktualität hat, heutzutage jedoch eine ganz besondere Relevanz aufweist. Mithu Sanyal hat zweifelsohne ein emanzipatives Werk geschaffen, das den Leser_innen mit simpler Sprache komplexe Sachverhalte rund um den Briff "Vergewaltigung" vermittelt. Ein Lese-Muss für alle im Kampf gegen sexuelle Gewalt!

Zur Autorin: Mithu M. Sanyal, geboren 1971 in Düsseldorf als Tochter einer polnischen Mutter und eines indischen Vaters, ist Journalistin, Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin. Sie studierte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Anglistik und Germanistik und promovierte magna cum laude sowohl an der Kunstakademie Düsseldorf, als auch an der Universität Duisburg-Essen. Sanyal lehrt seit 2011 an verschiedenen Universitäten und arbeitet freiberuflich als Hörspielautorin – ihr Stück, "Sternenkinder sterben schöner": ein postmoderner SciFi-Comedy-Radio-Krimi, wurde erstmals 2009 im WDR Einslive ausgestrahlt. Für ihre Radio-Features gewann sie inzwischen dreimal den Dietrich-Oppenberg-Medienpreis. Ihr Buch "Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts" (2009) wurde bisher in fünf Sprachen übersetzt.
Mehr Informationen zur Autorin unter: www.sanyal.de

Mithu M. Sanyal
Vergewaltigung

Edition Nautilus, erschienen August 2016
Taschenbuch, 224 Seiten
ISBN 978-3-96054-023-6
16,00 Euro
Auch als E-Book erhältlich
www.edition-nautilus.de

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Angela Koch - Ir/reversible Bilder. Zur Visualisierung und Medialisierung von sexueller Gewalt
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Beitrag vom 31.08.2016

AVIVA-Redaktion