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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 17.08.2011


Happy Birthday, Lotte Jacobi
Annette Bußmann

Am 17. August 2011 wäre die deutsch-amerikanische Fotografin Johanna Alexandra Jacobi, genannt Lotte Jacobi, 115 Jahre alt geworden. Im Jahr 1935 erreichte sie New York. Im Gepäck: Eine...




... Rückfahrkarte, die sie erst 27 Jahre später einlösen wird.(1)

Auf der Flucht vor den NationalsozialistInnen muss sie fast ihr gesamtes Hab und Gut in Berlin zurücklassen, auch einen großen Teil ihres einzigartigen Foto-Archivs. Sie steht vor dem Nichts. Doch die selbstbewusste Frau mit dem ansteckenden Lachen glaubt an sich, ihr künstlerisches Talent. "I was to be a photographer" sagt sie rückblickend. Und tatsächlich – Jacobi hat Glück: Nach vielen zermürbenden Jahren gelingt der energiegeladenen, leicht chaotischen Portraitistin mit dem Faible für Theater- und Tanzfotografie ein fragiler Neubeginn. Erst in New York, dem "größeren Berlin" (Hannah Arendt), dann in Deering/New Hampshire. Und sogar ihre alte Heimat erinnert sich ungewöhnlich rasch an sie: Bis heute harrt die Mehrzahl zeitgleich emigrierter Fotografinnen der Wiederentdeckung. Jacobi aber erhält "schon" 1973 eine erste große Retrospektive – als erste der heute meistzitierten "Grandes Dames" der Fotografie" des 20. Jahrhunderts – noch vor Marianne Breslauer, Gisèle Freund, Germaine Krull und Lucia Moholy.

Der tiefe Sturz der himmlischen Bohème

Nur aus "Angst... nicht etwa aus Antipathie", bleibe man weg, versicherten Jacobis KundInnen im fernen Berlin. Damals, 1933, als Nazi-Deutschland Jacobi die Lebensgrundlage entzog, ihre Fotos im gleichgeschalteten Ullstein-Verlag mit "Achtung! Photograph gesperrt" abstempelte. Jacobis Familie ist jüdischen Glaubens, sie selbst Atheistin, 1931 aus der jüdischen Religionsgemeinschaft ausgetreten. Bis 1933 prangen Jacobis Aufnahmen von den angesehensten Magazinen – vom UHU, der Dame, dem Querschnitt – sind ihre Werke auf wichtigen Ausstellungen vertreten, der "Fotografie der Gegenwart" (Essen, 1929), dem "Lichtbild" (München 1930). 1931 gewinnt Jacobi in Tokio die Silbermedaille des "Royal Photography Salon". "Himmlische Bohéme" nennt Jacobis Mitarbeiterin Elisabeth Röttgers die schillernden KundInnen, die im unkonventionellen Charlottenburger Atelier ein- und ausgehen – unter ihnen Lil Dagover, Albert Einstein, Heinrich George, Valeska Gert, Käthe Kollwitz, Klaus und Erika Mann, Leni Riefenstahl und Mary Wigmann. Doch während Albert Einstein und die Geschwister Mann ihr zeitlebens verbunden bleiben, die Manns sie sogar als einzige Fotografin in ihrer berühmten ExilantInnen-Schrift "Escape to Life" würdigen, lassen sich seit 1932 zusehends weniger selbst- oder fremdernannte "Bohemién/nes" bei Jacobi blicken.

"Ich wollte einmal Imker werden" – Fotografin wider Willen

Ein Drittel der Berliner Fotoateliers befindet sich in der Weimarer Republik in Frauenhand: Als non-plus-ultra-Profession umschwärmt manche den Beruf der Fotografin. Nicht so Lotte Jacobi. Sie will Imkerin werden, dann Schauspielerin. 1925, mit 29 Jahren, entscheidet sie sich, an der Staatlichen Höheren Fachschule für Fototechnik in München Fotografie zu studieren: Sie beugt sich der Tradition ihrer Familie, einer westpreußischen FotografInnen-Dynastie in vierter Generation. Ãœberaus erfolgreich hatte der politisch wie handwerklich konservative Vater Sigismund unter anderem für Kaiser Wilhelm II. gearbeitet. 1920/21 ziehen die Jacobis von Posen (Poznań) nach Berlin, eröffnen ein Atelier in der Joachimstaler Straße 5. Mutter Mia übernimmt die Vermarktung. 1927 steigt Lotte Jacobi in den Familienbetrieb ein – obwohl sie ihr Fotografiestudium schon 1926 gegen ein kinotechnisches eingetauscht hatte und weit lieber einem Film-Angebot gefolgt wäre.

"Ich kann nur so fotografieren wie ich es kann" – Jacobis dialogisches Prinzip

"Ich bin Künstlerin, keine kommerzielle Fotografin", betont Jacobi. In bester 19.-Jahrhundert-Manier beharrt sie darauf, während ihrer Berliner Jahre von nichts und niemandem beeinflusst worden zu sein. Damals habe sie weder Fotomagazine studiert, noch Kontakte zu KollegInnen gepflegt. "Ich bin eigentlich immer meinen Intuitionen gefolgt", behauptet sie 1977. Nur Alfred Stieglitz und Willy Otto Zielke, gibt sie zu, seien ihr damals nicht unbekannt gewesen. Hartnäckig revoltiert Jacobi gegen jede Stil-Schublade: "Mein Stil ist der Stil der Menschen, die ich photographiere". Während der Weimarer Republik, ihrer künstlerisch kreativsten und erfolgreichsten Zeit, driftet sie zwischen fotografischen Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Streng traditionsgebunden hantiert sie im Studio mit einer riesenhaften, altmodischen Plattenkamera. Zugleich ist sie – ganz im Sinne des sogenannten Neuen Sehens – mit einer brandneuen, handlichen Kleinbildkamera unterwegs, die sie ohne Blitzlicht einsetzen kann: Mit einer Ermanox pilgert sie durch die glamouröse Welt der Theater, Film- und Tanzstudios, der Cafés und Ateliers, lichtet die kapitalen Intellektuellen ihrer Zeit in frontalen Portraits ab. Die große avantgardistische Geste, das Bizarre und Skurrile, die absolute Demontage fotografischer Tradition arrangiert sie selten. Auch von der Reportage-Fotografie, die ihrerzeit ihren Siegeszug antrat, distanziert sie sich – zumindest verbal. Jacobis große Leidenschaft gilt der Persönlichkeitsfotografie. Am liebsten sucht sie ihre KundInnen zu Hause auf, wo sie sie am authentischsten glaubt. Eine Idealisierung oder Stilisierung, wie sie die Portraitfotografie seit Generationen praktiziert, lehnt sie ab. Mal tiefgründig, mal oberflächlich, mit gelegentlichem Augenzwinkern, hält Jacobi den Gesichtsausdruck, die Gesten ihres Gegenübers fest, die sie im Zwiegespräch für die privatesten hält. Ihre Biografinnen Marion Beckers und Elisabeth Moortgat charakterisieren diese Herangehensweise als das "dialogische Prinzip ihrer Bildniskunst".

Jacobi und die "Knaben-Baby-Gesichts-Schablone"

Gesicht und Hände leichenblass angestrahlt, zwängt sich Jacobi 1929 bei einem Selbstportrait neben eine uralte Plattenkamera. Sie hasst jedwede Konvention und Norm. Und so inszeniert sie sich 33-jährig mit faltig gerunzelter Stirn und zerzaustem Haar nachgerade als Gegenmodell zur makellos gestylten, niemals alternden, babyhautenen "Neuen Frau", die sich angeblich – so suggeriert es die Werbung – stets mit der neuesten Technik umgibt: Mitte der 1920er Jahre ist die Idee der "Neuen Frau" längst zu einer verkaufsträchtigen Verpackung mutiert, deren vermeintlich emanzipatorische Strahlkraft wenig mit der weiblichen Lebensrealität der Weimarer Republik zu tun hat. Platziert zwischen Anti-Faltencremes und ersten Aufrufen zur plastischen Nasen-Chirurgie, beherrscht der Mythos die Hochglanzmagazine und verängstigt trotzdem ungebrochen das Universum der Antifeministen. D. H. Lawrence etwa nörgelt noch 1930 über die "Knaben-Baby-Gesichts-Schablone"(2). Lichtjahre entfernt scheint Jacobis Selbstportrait vom Konstrukt der "Neuen Frau". Und doch ist es Jacobi, die nur ein Jahr zuvor die heutige Inkunabel des "Neue Frauen"-Portraits prägt, als sie die damals noch unbekannte Schauspielerin Lotte Lenya in ihrer Umkleidekabine aufsucht. Mit Zigarette, Bubikopf und fingerdickem Make-Up repräsentiert Lenya DEN "neufraulichen Typus". Die feinfühlige Beobachterin Jacobi jedoch gibt sich mit der Reproduktion eines bloßen Typus, wie ihn die zeitgenössische Fotografie diskutiert, nicht zufrieden. Sie hält den Moment fest, in dem ihr die Brecht-Mimin – durch alle berufsgebundene Maskerade hindurch – einen tiefpersönlichen Blick widmet. Mit Erfolg: Das Foto, das erst viele Jahre später publiziert wird, ist fortan Lenyas Lieblingsportrait.

"Meine Fotografie war nicht politisch"

"Politik und Fotografie haben bei mir nichts miteinander zu tun" sagt Jacobi, die in ihrer Berliner Zeit mehrfach KPD-Veranstaltungen besucht und 1930 der politisch aktiven Fotografin Tina Modotti ihr Atelier zur Verfügung stellt. 1932 portraitiert Jacobi den KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann für Wahlplakate und die AIZ (Arbeiter Illustrierte Zeitung). Als Entlohnung bittet sie um eine sechsmonatige UdSSR-Reise, die sie bald darauf antritt. Sie arbeitet für die Moskauer Agentur SOJUSFOTO und baut ihre Kontakte zu linkspolitischen Intellektuellen aus. Nach ihrer Emigration engagiert sich Jacobi, seit 1944 US-amerikanische Staatsbürgerin, in der Demokratischen Partei, und kämpft während der 1960er und -70er Jahre publikumswirksam gegen Vietnam-Krieg und atomare Aufrüstung.

Wundersame Wendungen im Exil

Zur Überraschung aller heiratet die freiheitsverwöhnte Eigenbrötlerin Jacobi 1940 im New Yorker Exil den deutsch-jüdischen Intellektuellen Erich Reiss (1887-1951). Bereits 1916 war sie für wenige Monate eine freudlose Ehe mit einem Holzhändler eingegangen. Sohn Jochen (er nennt sich später John F. Hunter) ging aus dieser Verbindung hervor. Jacobis zweiter Gatte Reiss aber entpuppt sich als Glücksgriff: Meist waren bei heterosexuellen Exil-Paaren nur die Frauen bereit, eine Stelle unterhalb ihrer Qualifikation anzunehmen. Der ehemals erfolgreiche Verleger Reiss indes unterstützt die Arbeit seiner Gattin nach Kräften. "Ich wurde verwöhnt. Er hat … geholfen, wo er konnte. Er hat gekocht", erzählt Jacobi 81-jährig. Und eine weitere, wundersame Wendung bahnt sich an: Seit 1947 experimentiert Jacobi mit abstrakter Fotografie. Ihre berühmten "Photogenics" entstehen – Lichtbilder, die sie ohne Kamera erzeugt. Als Reiss stirbt, zieht die Großstadt-Liebhaberin Jacobi mit Sohn und Schwiegertochter 1955 aufs Land, nach Deering. Hier stirbt sie am 6. Mai 1990 in einem SeniorInnenheim – nur wenige Tage nach einer noch bekannteren, gleichermaßen von der Kunstwelt zur Ikone stilisierten Frau – Greta Garbo.


(1) Sofern nicht anders vermerkt, basieren alle nachfolgenden biographischen Angaben und Zitate auf: Beckers, Marion/Moortgat, Elisabeth: Atelier Lotte Jacobi. Berlin, New York. Berlin 1997 sowie Eskilden, Ute (Hgn.): Lotte Jacobi 1896-1990. Berlin - New York - Deering. Essen 1990.

(2) Lammert, Angela: "Was gibt es wohl Schauerlicheres als die Knaben-Baby-Gesichtsschablone?". Zurücknahme und Vereinnahmung einer Utopie. In: Sykora, Katharina/Dorgerloh, Annette/Noell-Rumpeltes, Doris/Raev, Ada (Hgn.): Die neue Frau. Herausforderung für die Bildmedien der Zwanziger Jahre. Marburg 1993; S. 165-181.


Weitere Informationen finden Sie unter:

FemBio Frauenbiografieforschung e.V.

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Dieser Beitrag wurde uns im Rahmen unser Kooperation von FemBio Frauenbiografieforschung e.V. zur Verfügung gestellt.


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Beitrag vom 17.08.2011

AVIVA-Redaktion